»Ich schreibe eine Art Science-Fiction für Leute, die keine Science-Fiction lesen möchten« | 22.08.2022
Text: Margarete von Schwarzkopf
In dem vorletzten Roman verleiht er den Menschen die Fähigkeit zu fliegen. In „Eines Menschen Flügel“ verändert eine Gruppe von Wissenschaftlern, die es auf einen fernen Planeten verschlagen hat, das genetische Erbgut ihrer Nachfahren, so dass sie mit Hilfe von Flügeln auf dem fernen Stern mit seinem zum Teil verseuchten Boden überleben können. In seinem jüngsten Roman, der 2064 spielt, ist Eschbach nun wieder auf unsere Erde zurückgekehrt.
„Bei mir schlägt eine Art Pendel hin und her. Bin ich in einem Roman in der Zukunft auf einem Planeten irgendwo im Universum, lande ich im nächsten wieder auf dem Boden unserer vertrauten Welt. Ich möchte mich nicht wiederholen, sondern das erzählen, was mich beschäftigt, mir als Thema reizvoll erscheint. In ‚Freiheitsgeld‘ geht es unter anderem darum, wie sehr unsere Gesellschaft von Robotern abhängig ist, wie stark alles digitalisiert wird und welche Konsequenzen das für das alltägliche Leben hat. Dabei spielt das Freiheitsgeld, das ein Leben ohne Job ermöglicht, natürlich auch eine Rolle.“
Der Roman beginnt auf der Spitze des Ulmer Münsters, mit knapp 162 Metern der höchste Kirchturm der Welt. Ein junges Paar nimmt eine sogenannte Challenge an, den Turm zu erklimmen und kleinere Sprünge vom Turm in die Tiefe auf Video aufzuzeichnen und dieses Wagnis ins Netz zu stellen. Eschbach stammt aus Ulm, hatte aber zunächst die Türme des Kölner Doms im Visier als „Sprungbrett“ für das gefährliche Unterfangen der beiden Jugendlichen. „Aber dann war es leichter, den Ulmer Münsterturm zu nehmen, zumal der Kölner Dom zwei Türme hat, die ‚nur‘ 158 Meter hoch sind. Dadurch wird diese erste Szene noch spektakulärer“, erklärt Eschbach. Das Mädchen verunglückt dabei tödlich. Es ist die Urenkelin eines einst sehr prominenten Politikers, der das sogenannte „Freiheitsgeld“ einführte, einen festen Geldbetrag jeden Monat ohne Bedingung. Befürworter bejubeln dieses „bedingungslose Grundeinkommen“ als Voraussetzung für ein „selbstbestimmtes Leben“, Kritiker befürchten mehr Armut und den Verlust von Arbeitsstellen. Der Politiker Robert Havelock, nunmehr 95 Jahre alt, hatte das dreißig Jahre zuvor, 2034, durchgesetzt und dadurch immer wieder Jubel und auch Hass geerntet.
Eschbach hat seinen Havelock Vorbildern nachempfunden: „Dieser Mann ist eine Mischung aus Helmut Schmidt und Robert Habeck. Ein Mann mit Durchsetzungsvermögen und politischem Mut. Er soll zur Dreißig-Jahr-Feier des Freiheitsgeldes am 1. Juli 2064 eine Rede halten, aber dazu kommt es nicht mehr.“ Denn Havelock stirbt jäh, und die Frage ist, ob er Selbstmord begangen hat oder Opfer eines Verbrechens wurde. Parallel zu Havelocks Leiche wird ein Journalist tot aufgefunden, bei dem man sich fragt, ob er eines natürlichen Todes gestorben sein könnte oder in Folge eines Verbrechens. Die Polizei steht vor einem Rätsel.
„Ausgangspunkt oder besser Kern meines neuen Romans ist eine Kriminalgeschichte. Mich fasziniert immer die Suche nach Wahrheit, und in diesem Fall auch die Frage, welche Rolle dieses ominöse Freiheitsgeld spielt, was wirklich dahintersteckt, welche dunklen Geheimnisse sich damit verbinden. Ein Krimi-Plot erfordert eine sehr genaue Erzählstruktur, die ich nicht bei all meinen Romanen befolge. Oft schreibe ich los und überlege mir während des Schreibens, wie sich die Handlung entwickeln könnte. In diesem Fall aber wusste ich genau, was, wie und wann geschieht. Das heißt aber nicht, dass sich nicht Figuren und Szenen verändern. Nur das Ende muss klar sein und die Handlungsstränge einer gewissen Logik folgen“, erklärt der Autor, der seit 2003 in der Bretagne lebt, und, wie er mit leichtem Bedauern anmerkt, seit dem Ausbruch von Covid nicht mehr in Deutschland war, geschweige denn irgendwo hingereist ist. „Ich reise derzeit nur in meinen Büchern“, bemerkt er mit leichter Ironie.
So hat er auch den Schauplatz seines neuen Romans vor allem per Google erforscht. Das Buch beginnt zwar in Ulm und um Ulm herum, spielt dann aber in „Ruhrstadt“, einem Zusammenschluss der Städte im Ruhrgebiet. „Keine absurde Idee“, erklärt Eschbach. „Die Städte liegen dort so nahe beieinander, dass schon öfter der Vorschlag zu hören war, daraus eine einzige Großstadt zu machen. In meinem Buch teilt sich das Land in Städte und riesige Naturschutzzonen auf, die der Säuberung der Luft und der Erhaltung von Flora und Fauna dienen sollen. Die Bewohner jener Orte, die von den Naturschutzgebieten ‚geschluckt‘ wurden, siedeln nun zumeist in den Städten. Berlin stand als städtischer Schauplatz des Romans vorübergehend in der Diskussion, Köln auch. Aber die Idee der Ruhrstadt, die gar nicht weit hergeholt erscheint, hat dann gegenüber allen Großstadtkonkurrenten gewonnen.“
Ohnehin erscheint das, was Eschbach in „Freiheitsgeld“ schildert, nicht so weit von der Realität entfernt, dass der Roman eine ferne Utopie oder Science-Fiction wäre. Eschbach nennt es „Sozial-Fiktion“, da der Roman einen Blick auf eine Zeit wirft, die etliche seiner Leser sogar noch miterleben könnten und heute schon aktuelle soziale Fragen fiktiv ausschmückt. „Ich schreibe eine Art Science-Fiction für Leute, die keine Science-Fiction lesen möchten. Deshalb ist es gerade in einer Geschichte, die sich mit Themen wie Freiheitsgeld oder der immer stärker präsenten Digitalisierung befasst, sehr wichtig, dass sie noch einen glaubhaften Bezug zu unserer Zeit und unseren Problemen hat. Nichts zu Abgefahrenes, keine Umwelt, die total fantastisch wirkt, oder eine Technik, die Normalverbraucher nicht nachvollziehen können.“ So hat sich diese nahe Zukunft nicht gänzlich von unserer Epoche entfernt. Noch gibt es Fernsehen, gedruckte Zeitungen, Bücher, die allerdings je nach Wunsch in Automaten entstehen, was ein bisschen an „Books on Demand“ erinnert, Kinofilme und Radio. Bargeld allerdings ist verboten, so dass sich im Buch ein Mann, der den Kölner Dom aus Ein-Cent-Münzen nachkonstruiert, viel Ärger einheimst. Denn sein Meisterwerk aus Münzen gilt als illegaler Besitz von Bargeld. Solche leicht ironischen Momente im Plot wirken erfrischend, was Eschbach gerne sieht: „Dies ist ein für meine Verhältnisse eher optimistischer und nicht dystopischer Roman. Ich wollte nicht ein allzu dunkles Buch in einer Zeit schreiben, die für viele Menschen schwer erscheint.“
Covid und der Ukraine-Krieg kommen nicht vor. Das würde den Roman erschweren und in eine andere Richtung zwingen. Eschbach liegt vor allem daran, dass die Sorgen, Ängste und Wünsche der Protagonisten glaubhaft bleiben. Sie leben in unterschiedlichen Sozialstrukturen, sind ihren alltäglichen Glücksgefühlen oder ihrer Furcht ausgeliefert und verlieren sich im Netz von uralten menschlichen Eigenschaften wie Neid, Gier nach Wohlstand, Streben nach Erfolg oder auch Sehnsucht nach Zuneigung und Geborgenheit.
Dies alles zeigt der Autor am Beispiel von mehreren Hauptfiguren, die man grob in drei Paare aufteilen kann. Da sind Valentin und Lina, die glauben, den Aufstieg geschafft zu haben, doch in den Sog einer bösen Intrige geraten. Da sind Kilian und seine Frau, die einen sozialen Abstieg hinter sich haben, dessen Grund in eben jener Dunkelzone liegt, in die Valentin gerät. Und da ist Ahmad, der seine Zukunft im Dienste der Polizei sucht, seinem Vorgesetzten, einem notorischen Frauenhelden, beweisen möchte, dass er ihm das Wasser reichen kann und somit seiner Freundin Franka würdig ist, um die sein Chef wirbt. Dazu kommen eine Fülle weiterer Charaktere wie Ahmads Bruder, die Betreiberin eines Fitnessstudios mit sinistrem „Nebenerwerb“, Ahmads lebenslustiger Großvater und natürlich die beiden politisch miteinander verbundenen Toten. Ein buntes Kaleidoskop von Figuren mit eigener Biografie. „Ich mag alle meine Charaktere“, sagt Eschbach. „Auch die Gangster. Ich versuche deshalb, allen gerecht zu werden. Der Leser darf sich seine Favoriten auswählen, der Autor nicht.“ Manchmal wandeln sich die Charaktere im Laufe des Schreibens und werden dann erst überzeugend, so der Autor, wenn sie mitbestimmen, wie ihr Schicksal ablaufen soll. „Schreiben ist ein ständiger Prozess des Wandelns, Verwandelns, sich dem Wandel fügen.“ Die berühmte Frage, ob sein Roman eher „plot driven“ oder „character driven“ sei, beantwortet der Autor knapp: „Eher von der Handlung getrieben. Aber die Personen sind untrennbar damit verknüpft.“
Rund 520 Seiten umfasst „Freiheitsgeld“. Fast zwei Jahre hat Eschbach daran gearbeitet. Wie viel er für diesen Roman recherchiert hat, kann er nicht genau sagen. In einem Interview hat er einmal, auf das Thema Recherche angesprochen, gesagt: „Gute Recherche ist ein Qualitätskriterium für einen Journalisten, aber nicht für einen Schriftsteller. Bei einem Roman die Recherche zu loben, ist ungefähr so, als lobe man die Rechtschreibung. Beim Schreiben eines Romans ist Recherche einfach eine mehr oder weniger lästige Notwendigkeit.“
Dennoch setzt er sich gründlich mit den Fragen auseinander, die in seinem Buch wichtig sind. Schon seit er 1995 seinen ersten Roman „Die Haarteppichknüpfer“ veröffentlicht und 1998 mit „Das Jesus Video“ seinen internationalen Durchbruch erlebt hat, kennt er sich in der schnellen und präzisen Recherche aus. Natürlich helfen das Internet, und, vor Corona, auch Bibliotheksbesuche, und die unverwüstliche „Encyclopaedia Britannica“ dient als eine der noch immer besten Quellen für gründliche Information. Was man nicht darüber erfährt, muss man mit Fachleuten klären. Die Erfahrung lehrt, dass die meisten Menschen auskunftsbereit sind, wenn man sie zu ihrem Fachgebiet befragt, meint Eschbach. Sehr wichtig ist ihm, dass Details wie Feiertage oder Wochentage stimmen, dass 2064 zum Beispiel Ostern an einem 6. April begangen wird und sich bei Daten keine Fehler einschleichen. Havelock sollte am 1. Juli seine große Rede zum Jubiläum der Einführung des Freiheitsgeldes halten, was an einem Dienstag gewesen wäre. 2064 ist ein Schaltjahr, was als Detail beachtenswert erscheint. Es sind gerade diese „Kleinigkeiten“, die, so Eschbach, einer Geschichte Authentizität verleihen.
Er habe seit seinen ersten Büchern sehr viel über das Schreiben dazu gelernt, würde heute im Rückblick manches ganz anders darstellen oder formulieren als damals. Was sich aber nicht in den fast dreißig Jahren verändert hat, ist das, was hinter dem Schreiben steht und ihn immer wieder beflügelt: die Lust am Fabulieren, der ewige Drang, den die Menschheit schon seit Jahrtausenden kennt, Geschichten zu erzählen, andere Menschen zu unterhalten, vielleicht auch zu beeindrucken und zu betören. „Erzählen ist etwas Elementares, und Schreiben stammt aus derselben Quelle.“ Und so wird Andreas Eschbach hoffentlich noch viele weitere Geschichten erzählen. Ideen hat er für unzählige Bücher. Fehlt nur die Zeit, sie alle zu Papier zu bringen. Und die nächste wird vielleicht wieder in fernen Galaxien spielen, wobei das Gute, nämlich die Erde, auch bei Andreas Eschbach so nahe liegt und sicher noch viele spannende Themen für ihn und seine große Leserschaft bereithält.