Charlotte Lyne - Autor
© Olivier Favre

Autorin

Charlotte Lyne

Charlotte Lyne, geboren 1965 in Berlin, studierte Germanistik, Latein, Anglistik und Italienische Literatur in Berlin, Neapel und London. Bevor sie mit ihrem Mann und ihren drei Kindern nach London zog, lebte sie einige Zeit in Glencoe, der schottischen Heimat ihrer Schwiegerfamilie.  Charlotte Lyne arbeitet als Autorin, Übersetzerin und Lektorin.

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Interview

Interview | 20.12.2013

Im November ist Charlotte Lynes neuer Roman »Das Mädchen aus Bernau« erschienen – diesmal mit den Schauplätzen Berlin und Brandenburg. Im Interview spricht sie über ihre Heimatstadt und wie die Geschichte über sie zu ihr fand.»Das Mädchen aus Bernau« spielt im Berlin des 14. Jahrhunderts. Sie wurden...

Im November ist Charlotte Lynes neuer Roman »Das Mädchen aus Bernau« erschienen – diesmal mit den Schauplätzen Berlin und Brandenburg. Im Interview spricht sie über ihre Heimatstadt und wie die Geschichte über sie zu ihr fand.
»Das Mädchen aus Bernau« spielt im Berlin des 14. Jahrhunderts. Sie wurden in Berlin geboren – war es eine Frage der Zeit für Sie, bis Sie einen Roman über Ihre Heimatstadt schreiben? War das Schreiben in diesem Sinne etwas Besonderes für Sie?
Oh ja, das Schreiben war etwas sehr Besonderes, und es ist auch etwas Besonderes, dass das Buch jetzt da ist. Ich hatte diese Geschichte lange in meiner Schublade, wagte aber nicht so richtig, sie meinem Verlag vorzuschlagen. Warum ist schwer zu sagen – vielleicht weil einem das eigene doch so nahe ist, dass man sich ein bisschen davor fürchtet? Stattdessen kam jedoch – zu meinem Glück – mein Verlag auf mich zu, um über einen historischen Roman, der in Ost- oder Mitteldeutschland spielt, zu sprechen. Das war mein Jetzt-oder-nie-Moment. Ich fasste mir ein Herz, befreite die Bernauerin aus der Versenkung, und da sie auf Gegenliebe stieß, durfte ich loslegen. Es war eine tolle Zeit!
Hat die Recherche dazu Spaß gemacht?
Die Recherche war wundervoll! Vom mittelalterlichen Berlin ist ja vergleichsweise wenig erhal-ten. Man braucht also viel Zeit, viele Wege durch Straßen, die auf den ersten Blick nichts preis-geben, und die Unterstützung freundlicher Fachleute, die einem hier und da auf die Sprünge helfen. Dann aber klappt es, die Zeitmaschine funktioniert und das tollkühne Cölln-Berlin des 14. Jahrhunderts streckt seinen Kopf durch die Schichten. Wenig Bausubstanz mag zu sehen sein, doch das spätmittelalterliche Berlin lebt auf andere Weise bis heute fort.
Höhepunkte der Recherche waren zudem Aufenthalte in dem einzigartig restaurierten und ge-führten Kloster Chorin und der Tag, an dem ich mitten im Winter, bei Minus 14 Grad noch einmal nach Bernau fuhr, um im dortigen Museum ein Gespräch zu führen. Es war Sonntag, die kleine Stadt war wie ausgestorben, der Schnee lag kniehoch, und ich hatte meine Handschuhe im Zug vergessen. An dem Tag habe ich mich wirklich gefühlt wie ein Mensch aus dem Jahre 1338.
Wie viel Fiktion steckt in dem neuen Roman?
Tja. Das ist eine schwierige Frage. Ich bin kein Mensch mit sprühender Fantasie und empfinde meine Geschichten selten als ausgedacht, sondern eher als „gefunden“. Ich liebe die Wühlerei in Primärquellen, bei der ich auf Menschen und Schicksale stoße, die sich adaptieren und zusam-menfügen lassen, und betrachte mich als Geschichtenerzähler, weniger als Geschichtenerfinder. Dass am Ende trotzdem eine Geschichte herauskommt, die so nicht stattgefunden hat, versteht sich von selbst - auch dann, wenn sämtliche Figuren lebende Vorbilder haben (wie es in diesem Roman mit einer Ausnahme tatsächlich der Fall ist). Ich glaube, ich darf sagen: Die Fiktion hält die einzelnen Teile zusammen. Aber die Teile habe ich beinahe alle „gefunden“. Die meisten, aber beileibe nicht alle im 14. Jahrhundert. Wichtig ist mir, zu erwähnen, dass der Einsatz der Fran-ziskaner vom Grauen Kloster während des Interdiktes über Berlin nicht erfunden ist. Dieses Element war es, in das ich mich ursprünglich verliebt hatte – ich finde, das ist eine wunderschöne und typisch berlinerische Geschichte von Trotz, Chuzpe und Jetzt-erst-recht.
In der Widmung schreiben Sie: „In Liebe für meine Stadt“. Fühlen Sie sich selbst noch als Berlinerin?
Unbedingt! Ich bin eine Berlinerin, die in London lebt. Das merkt man auch. Ich bekomme zum Beispiel in der U-Bahn immer einen Sitzplatz, weil die Londoner viel zu gesittet und höflich sind, um gegen mein Berliner Rammbockverfahren eine Chance zu haben. Ich lieb‘ sie beide, Berlin und London, ich finde, sie ergänzen sich göttlich, und ich fühle mich ungeheuer privilegiert, diese zwei grandiosen Städte „meine“ nennen zu dürfen. Außerdem bin ich natürlich bis heute unverbrüchlich Fan von Hertha BSC – und meine Kinder sowie mein in London geborener Ehemann genauso.
Finden Sie sich oft in Ihren Figuren wieder? Wie viel Charlotte Lyne steckt in Magda, Thomas und den anderen Charakteren aus »Das Mädchen aus Bernau«?
Meiner Empfindung nach von mir gar nichts. Aber so genau kann man das, denke ich, nie sagen. Und das ist auch gut so. Bei manchen Dingen, über die ich unbedingt und immer wieder schreiben muss, frage ich mich durchaus, warum mich das nicht loslässt, und es gruselt mich ein bisschen. Das, was unbedingt von mir ist, ist meine Begeisterung für die zählebigen Leute aus dem 14. Jahrhundert. Außerdem handeln meine Geschichten immer von Familien, was wohl daran liegt, dass ich nicht weiß, wie man ohne Familie lebt. Ich könnte vermutlich kein Buch schreiben, in dem nicht geboren und gestorben wird. Die Harzers kommen – wenn man die Dramatik außen vor lässt – glaube ich, meinen eigenen Familien (der, in die ich geboren bin, sowie der, die ich gegründet habe) durchaus sehr nahe: chaotisch, weder clever noch diplomatisch, aber un-verwüstlich, lebenssüchtig und aneinander klebend wie Superkleister. Mein Vater sagt immer: Wenn von uns einer zum Frauenarzt muss, rücken sieben Mann ein. Ja, ich glaube, es hat solchen Spaß gemacht, die Harzers zu schreiben, weil die mir von irgendwoher bekannt vorkommen …
Die Protagonistin Magda Harzer hat Träume, die ihr den Tod nahestehender Personen ankündigen. Wie kamen Sie auf die Idee, ein fantastisches Element einzubauen?
Ich bin eigentlich der absolute Anti-Esoteriker, an dem die meisten „more things between heaven and earth“ unbemerkt vorbeirauschen. Auf die Idee, dass man Magdas Träume als fantastisches Element empfinden könnte, bin ich trotzdem nicht gekommen, denn ich bin mit solchen Träumen aufgewachsen: Mein Vater hat sie. Dass er weiß, wer am nächsten Tag stirbt, war und ist eine Tatsache, die wir von klein auf als gegeben hingenommen haben. Uns hat das wirklich nie sonderlich verwundert. Mein Vater ist ein besonders reizender Mensch. Ich würde ihm auch auf Wiedersehen sagen wollen, bevor ich sterbe.
Über welche Städte planen Sie in nächster Zeit zu schreiben? Vielleicht sogar über Köln?
Köln ist eine prachtvolle Stadt, ein Mekka für Mittelalter-Fans, und unzählige Romane wert – aber sie braucht mich nicht. Sie hat so hervorragende Kolleginnen wie Charlotte Thomas und Andrea Schacht, mit denen ich mich nicht messen möchte. Charlotte und Andrea sind da auch viel besser beschlagen, weil sie Köln kennen wie ich London und Berlin kenne, ganz von innen und ganz intensiv. Ich dagegen freue mich auf ein weiteres Buch über Berlin und eines, das in London und Portsmouth, für das ich eine lebenslange Schwäche habe, spielt. Mein Traum wäre es, über Neapel schreiben zu können, wo ich studiert und bis heute einen dritten Lebensmittelpunkt habe. Dann wäre mein Dreigestirn komplett – und Geschichten lauern dort ohne Ende.
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