"Beim Schreiben hatte ich manchmal das Gefühl, es gibt diese Welt irgendwo, und ich schreibe nur Erinnerungen nieder, die mir zugeflossen sind von Leuten, die dort waren." | 29.09.2020
Nach einem Roman wie NSA ist es sicher nicht leicht, ein neues Projekt anzugehen, ein neues Thema auszuwählen. Wie gehen Sie dabei vor? Und wie ist es dazu gekommen, dass EINES MENSCHEN FLÜGEL diese Wahl gewonnen hat?
Mich jeweils zu entscheiden, welches der nächste Roman werden soll, das ist die schwierigste Phase überhaupt. Wenn diese Frage ansteht, gehe ich meiner Frau wochenlang mit immer neuen und »neuen alten« Ideen auf die Nerven, mit »oder soll ich doch?« und »ach nein, das ist doch nicht das Richtige« und so weiter; wir diskutieren bei jedem Essen endlos darüber. Und es scheint mit den Jahren immer schwieriger zu werden. Es ist ja auch eine wichtige Entscheidung, denn mit der Geschichte und ihren Figuren verbringe ich dann das nächste Jahr; das will gut überlegt sein! Und mein Ideenbuch ist immer noch dick, die Auswahl ist lähmend groß…
Irgendwann ist bisher immer der Punkt gekommen, an dem der Groschen gefallen ist und ich dachte, »das wird es«. In diesem Fall ging es mir so, dass ich wusste, »NSA« kann ich in seinem Genre – welches auch immer das sein mag – nicht toppen. Damit sind schon mal eine ganze Menge Ideen auf der Wartebank gelandet, und mir war klar, dass das nächste Buch etwas ganz anderes sein musste. Also habe ich mich gefragt, ob jetzt nicht der richtige Zeitpunkt wäre, ein Projekt zu verwirklichen, das ich inzwischen auch schon zwanzig Jahre mit mir herumgetragen habe: EINES MENSCHEN FLÜGEL.
Eine lange Vorgeschichte also …
Die Vorgeschichte ist folgende: Ich war 1998 auf das allererste UTOPIA Festival eingeladen, das damals noch in Poitiers stattfand. Dort bin ich meinem französischen Verleger Pierre Michaut zum ersten Mal begegnet, der die HAARTEPPICHKNÜPFER auf Französisch herausgebracht hat, meine erste Übersetzung überhaupt und nach 18 Jahren der erste deutschsprachige SF-Roman, der in Frankreich erschien – ein ziemlich bedeutsames Event in meiner Laufbahn also. Doch bei dieser Gelegenheit ist auch der Kritiker und Herausgeber Denis Guiot auf mich zugekommen und fragte mich, ob ich nicht eine Story für eine Anthologie für Kinder und Jugendliche beisteuern wolle, die er herauszugeben beabsichtigte. Natürlich habe ich ja gesagt und daraufhin "Der Schwung der Pfeilfalken" geschrieben, eine Geschichte, die nahezu mit dem ersten Kapitel von EINES MENSCHEN FLÜGEL identisch ist – nur der letzte Absatz, der ihr eine ganz andere Richtung gibt, fehlte noch.
Die Story wurde von Claire Duval ins Französische übersetzt, die erwähnte Anthologie kam jedoch nicht zustande. Stattdessen erschien die Geschichte im Jahr 2000 in der Anthologie UTOPIAE, die sozusagen der Begleitband zum ersten UTOPIA-Festival in Nantes war.Im deutschen Original ist die Geschichte nie erschienen. Absichtlich nicht, denn ich hatte von Anfang an das Gefühl, dass darin mehr steckt – ein Roman nämlich. Und über die Jahre habe ich immer wieder daran getüftelt, Notizen gemacht, Ideen ausgearbeitet, auch schon Texte geschrieben, die nun alle in diesen Roman eingeflossen sind. Dass er so voluminös werden würde, hatte ich allerdings nicht erwartet.
Die Story wurde von Claire Duval ins Französische übersetzt, die erwähnte Anthologie kam jedoch nicht zustande. Stattdessen erschien die Geschichte im Jahr 2000 in der Anthologie UTOPIAE, die sozusagen der Begleitband zum ersten UTOPIA-Festival in Nantes war.Im deutschen Original ist die Geschichte nie erschienen. Absichtlich nicht, denn ich hatte von Anfang an das Gefühl, dass darin mehr steckt – ein Roman nämlich. Und über die Jahre habe ich immer wieder daran getüftelt, Notizen gemacht, Ideen ausgearbeitet, auch schon Texte geschrieben, die nun alle in diesen Roman eingeflossen sind. Dass er so voluminös werden würde, hatte ich allerdings nicht erwartet.
EINES MENSCHEN FLÜGEL ist nicht mit NSA zu vergleichen. Gibt es trotzdem eine Gemeinsamkeit, die sich durch alle Ihre Romane zieht?
Das wüsste ich auch gern. Die beste Definition, denke ich, hat einmal der deutsche Konsul in Montpellier gefunden, als er mich anlässlich des dortigen Literaturfestivals vorstellte mit den Worten, mein Thema sei »l’avenir de l’humanité«. Das kann man zwar mit »die Zukunft der Menschheit« übersetzen, aber im Französischen hat das Wort »l’humanité« die interessante Doppelbedeutung, dass es sowohl »die Menschheit« bedeutet als auch »das Menschsein an sich«, und tatsächlich interessiert mich in meinen Romanen immer beides. Was heißt es, ein Mensch zu sein? Was wird es in Zukunft heißen? Wir sind als Spezies untrennbar mit unserer Technik verbunden, also hat jede Entwicklung dieser Technik auch Rückwirkungen auf uns, auf unser Selbstverständnis, auf die Art und Weise, wie wir leben und lieben und was wir als Sinn unseres Daseins begreifen.
Angenommen, es wäre möglich, uns Menschen auf gentechnischem Wege Flügel zu verschaffen – wie würde sich das auf unser Menschsein auswirken? Das ist eine der Fragen, von denen EINES MENSCHEN FLÜGEL handelt.
Angenommen, es wäre möglich, uns Menschen auf gentechnischem Wege Flügel zu verschaffen – wie würde sich das auf unser Menschsein auswirken? Das ist eine der Fragen, von denen EINES MENSCHEN FLÜGEL handelt.
Sie lassen in EINES MENSCHEN FLÜGEL eine ganze Welt entstehen. Es ist – trotz vieler Gefahren, die sie in sich birgt (allen voran der Margor, dieses geheimnisvolle Phänomen, das den größten Teil des Bodens beherrscht und jeden tötet, der den Fuß darauf setzt) – eine ungeheuer farbenprächtige Welt: Da gibt es Beißbeeren, Wolkenkraut und Ratzensträucher, den Strickfresser-Fisch, das Flirrgras oder das Frostmoos, das Eisenland, den Immerwind-Pass oder die Goldküste. Auch die Kultur der geflügelten Menschen ist detailreich beschrieben. Gibt es eine Inspiration für all diese Dinge, außerhalb Ihrer eigenen Phantasie?
Bestimmt gibt es solche Inspirationen, aber keine, derer ich mir bewusst wäre. Wenn eine Geschichte über so lange Zeit heranreift, dann hat sie eher etwas von einem besonders intensiven Traum, und so würde ich eigentlich den Entstehungsprozess von EINES MENSCHEN FLÜGEL am ehesten beschreiben: Am Anfang stand dieser Traum von einem jungen Mann, der unbedingt die Sterne sehen will, und sei es nur ein einziges Mal – und diesem Traum bin ich dann behutsam gefolgt, gespannt darauf, wohin er mich führen würde. Von all meinen Romanen ist das derjenige, der sich am stärksten sozusagen »von selbst geschrieben«, aus sich selbst heraus entwickelt hat. Beim Schreiben hatte ich manchmal das Gefühl, es gibt diese Welt irgendwo, und ich schreibe nur Erinnerungen nieder, die mir zugeflossen sind von Leuten, die dort waren.
Der Roman ist eine große Abenteuergeschichte, die von Anfang an fesselt. Haben Sie einen Lieblingsort im Roman, an den Sie gern selbst reisen würden?
O ja, viele. Wenn ich mich entscheiden müsste, dann würde ich die lange Fahrt den Thoriangor hinab machen und vom Schlammdelta dann weiter zu den Perleninseln. Dort war ich, wenn ich an das Schreiben des Romans zurückdenke, zu wenig.
Es wird aus verschiedenen Perspektiven erzählt. Gerade der Anfang erinnert an Ihre Jugendbücher (wie z.B. das Marsprojekt). Holt dieser Roman auch die älter gewordenen Leser dieser Romane ab?
Die Grenze zwischen meinen Jugendbüchern und meinen Romanen für Erwachsene ist ohnehin sehr brüchig und wird häufig überschritten, und zwar von beiden Seiten aus. Insofern kann ich hier ganz selbstverständlich sagen: Ja, klar. Obwohl EINES MENSCHEN FLÜGEL sicher kein Jugendbuch ist. Aber es handelt unter anderem auch vom Erwachsenwerden, und das auf mehreren Ebenen.
Ihr Roman hat viele starke Figuren. Da sind zum Beispiel Owen, der um jeden Preis die Sterne sehen will, sein Sohn Oris, der sich bei seiner Suche nach der Heimstatt nicht aufhalten lässt, und Nechful, der nicht von seinen Erfindungen lassen kann. Was verbindet sie, was treibt sie an?
Die Neugier, würde ich sagen, diese zutiefst menschliche Eigenschaft. Man sagt Owen, es gibt die Sterne, der Ursprung aller Menschen, doch er wird sie nie erblicken. Und er sagt darauf: Das wollen wir doch mal sehen! Oris kommt auf die Spur einer wirklichen Legende – so, als würden wir heute die Arche Noah ausgraben: Wie könnte man aufhören, so einer Spur zu folgen? Und Nechful ist erfüllt von einem Forschergeist, der ihn antreibt, die Grenzen des Machbaren auszuloten.
Den geflügelten Menschen ist jede Form von Technik untersagt, schwere körperliche Arbeit ist fester Bestandteil ihres Lebens. Haben Sie bei Ihren Recherchen etwas über Handwerk und Landwirtschaft gelernt?
Ehrlich gesagt, habe ich für diesen Roman sehr wenig recherchieren müssen: Das ist der Vorteil, wenn man sich in einer Welt aufhält, die man selber erfunden hat. Aber ich bin als Kind auf dem Land aufgewachsen, und damals waren sowohl das Handwerk wie auch die Landwirtschaft noch Themen, die einen ständig begleitet haben, in der Schule genauso wie im Alltag. Auf diese Erfahrungen und Erinnerungen habe ich zurückgegriffen.
Welche Bedeutung hat die Kunst, bzw. das Theater im Roman?
Es ging darum, zu unterstreichen, dass es nicht menschenwürdig ist, einfach nur zu überleben: Als Menschen haben wir auch das Bedürfnis nach ästhetischem Ausdruck, nach Schönheit, nach Kultur. Das kommt in diesen Episoden zum Ausdruck. Zugleich leben die geflügelten Menschen aber auch in einer, man könnte sagen, restriktiven Tradition hinsichtlich des Einsatzes von Technik, und nur im Schlammdelta, wo das alltägliche Leben leichter fällt als anderswo, kann man sich eine so aufwendige Kunstform wie das Große Theater leisten – dessen Stücke wiederum eben diese Tradition verherrlichen.
Es gibt eine Szene, in der eine der Figuren, Nechful, ein Erfinder, aus luftiger Höhe auf seine Heimat hinabblickt und in ihrer Schönheit versinkt und erkennt: Alles ist gut so. Ist EINES MENSCHEN FLÜGEL vielleicht auch so etwas wie eine „Ikarus-Geschichte“? Ein Appell daran, auch einmal einfach zufrieden zu sein mit dem, was man hat, zu sehen, dass es gut so ist, wie es ist? Und nicht immer höher hinaus zu wollen?
Auch, ja. Wobei das nur eine von vielen Möglichkeiten ist, die Geschichte zu verstehen, denke ich. Ich bin selber noch dabei, zu ergründen, was alles drinsteckt in diesem riesigen Epos.