Autorin

Anett Gräfe

Anett Gräfe, 1981 in Zittau geboren, ist in Konstanz aufgewachsen. Nach ihrem Studium der Wirtschaftspädagogik hat sie einige Jahre als Projekt- und Eventmanagerin gearbeitet, bevor sie sich im Bereich Marketing selbstständig gemacht hat. Sie lebt in der Schweiz am Bodensee.

Interview

„Ich bin der Meinung, dass jeder einzelne nicht nur über seine Lebensverlängerung entscheiden darf, sondern auch über eine mögliche Verkürzung.“ | 10.11.2015

Warum haben Sie sich dazu entschieden, ein Buch über Ihre Erlebnisse zu schreiben?Ich habe seit dem ersten Tag, an dem ich von dem Unfall erfahren habe, Tagebuch geschrieben. Das Schreiben hat mir extrem geholfen, mit all dem umzugehen. Damit konnte ich vieles verarbeiten, was mich belastet hat. Etw...

Warum haben Sie sich dazu entschieden, ein Buch über Ihre Erlebnisse zu schreiben?
Ich habe seit dem ersten Tag, an dem ich von dem Unfall erfahren habe, Tagebuch geschrieben. Das Schreiben hat mir extrem geholfen, mit all dem umzugehen. Damit konnte ich vieles verarbeiten, was mich belastet hat. Etwa vier Monate, bevor Mama sich dazu entschlossen hat, den Weg in den begleiteten Freitod zu gehen, habe ich mir das Buch „Ein ganzes halbes Jahr“ gekauft. Darin fand ich vieles wieder. Mich, meine Gedanken und auch Mamas Gedanken, die sie mir gegenüber so nie wirklich in Worte fassen konnte, die aber in der Luft lagen. Das Buch half mir, besser zu verstehen. Es half mir, Mamas Lage mehr begreifen zu können und auch die unterschiedlichen Positionen zur Freitodbegleitung greifen zu können. Als ich selber Tagebuch schrieb, dachte ich oft im Stillen „vielleicht könnten meine Gedanken und unsere Geschichte auch jemanden helfen.“ Hinzu kam noch, dass kurz vor dem Termin in Basel über Lifecircle eine Interviewanfrage im Rahmen einer Sondersendung zu Mama kam. Leider kam dies nicht zustande, da die Dreharbeiten verschoben wurden. Mama hat mir einmal gesagt, sie hätte gerne der Welt gesagt, wie sie dazu steht, was ihre Gründe sind und so das Bewusstsein für einen selbstbestimmten Tod geschärft. Dies hat mich grundsätzlich dazu ermutigt, mit unserer Geschichte an die Öffentlich zu gehen.
Als ich im November 2014 als Talkgast in der Sendung Markus Lanz war, wurde das erste Mal die Idee eines Buches ausgesprochen. Lisa Bitzer, die ich dort kennenlernte, fragte mich, ob ich mir vorstellen könnte, aus den mittlerweile 7 Tagebüchern ein Buch zu machen. Ich nickte, ohne wirklich daran zu glauben, dass das was werden könnte. Aber es wurde etwas. Bastei Lübbe sagte dem Projekt zu und so ging es plötzlich rasend schnell. Für mich war das Buch eine Möglichkeit, mich nochmal mit allem Erlebten auseinander zu setzen. So, wie mir zuvor schon das Tagebuchschreiben half, so half es mir nun, die Tagebücher nochmal zu lesen und in eine Buchform zu bringen. Und nun freue ich mich, dass ich mit dem Buch auch noch einen Beitrag zur aktuellen Debatte liefern kann. Es würde mich freuen, wenn es auch Gegner der Sterbehilfe lesen würden.
Nun wurde ein neues Gesetz zur „Strafbarkeit der geschäftsmäßigen Förderung der Selbsttötung“ beschlossen. Wie stehen Sie dazu?
Mit dem Gesetzentwurf wird ein neuer Straftatbestand geschaffen, der die "geschäftsmäßige Förderung der Selbsttötung" unter eine Strafe von bis zu drei Jahren Gefängnis gestellt. Das neue Gesetz kommt in meinen Augen einem (faktischen) Verbot der begleiten Sterbehilfe gleich. Damit wird Menschen, die sich aufgrund einer unheilbaren Krankheit oder eines für sie unerträglichen Leidens für den Tod entscheiden, ihr Selbstbestimmungsrecht genommen – oftmals das einzige was sie noch haben. Kann man jemandem, der sich trotz aller Bemühungen mit seinem Leben quält diesen einen letzten Wunsch abschlagen? Den Wunsch nach einem sanften, würdevollen, für ihn erlösenden Tod? Wenn jemand einmal Worte wie „Hilf mir, wenn du mich liebst“ von einem unbeschreiblich leidenden, geliebten Menschen gehört hat, dann wird man offener für seine Wünsche, auch wenn diese den Tod bedeuten. Politiker sind da oftmals zu weit weg.
Diese Entscheidung hat mich zutiefst schockiert. Nicht nur weil sie das Selbstbestimmungsrecht jedes einzelnen einschränkt, sondern auch weil es genau das Gegenteil von dem ist, was sich die Bevölkerung gewünscht hätte. Rund 80% der Bevölkerung haben sich Umfragen zufolge für eine Liberalisierung der Sterbehilfe und ähnliche Regelung wie in der Schweiz ausgesprochen. Mit der Neuregelung kommt es zu einer Kriminalisierung der Sterbehilfe, die sogar den Weg in die Schweiz (fast) unmöglich macht. Sowohl Angehörigen als auch Ärzten sind nun noch mehr die Hände gebunden. Der Betroffene sieht sich nun noch mehr mit der Gefahr konfrontiert, seine Vertrauensperson strafrechtlich in Gefahr zu bringen.
Ich bin der Meinung, dass jeder einzelne nicht nur über seine Lebensverlängerung entscheiden darf, sondern auch über eine mögliche Verkürzung. Das Leben sollte natürlich immer priorisiert werden und es sollte alles daran gesetzt werden, Therapien umzusetzen. Aber wenn das individuelle Leid als zu groß empfunden wird, dann halte ich es für falsch, diesen Menschen zu zwingen, weiter zu leben. Seit unserer Geburt werden wir dazu erzogen, selbst zu entscheiden. Warum nicht auch über den Tod. Der Tod gehört zum Leben dazu und sollte in unserer Gesellschaft wieder akzeptierter werden. Sie finden auch noch einige Aspekte auf meiner Webseite www.anettgraefe.de.
Ist der Tod in Deutschland ein Tabuthema?
Ja, ich finde schon. Er wird sozusagen totgeschwiegen. Einzig wenn es um Lebensverlängerung geht, wird alles erdenklich Mögliche dafür getan. Aber Sterben, nein, das gibt es nicht. Auch wird man in der Gesellschaft kaum noch mit Leid oder Alter konfrontiert. Es zählt jung, sportlich und hübsch zu sein. Aber alt und gebrechlich, das darf es nicht geben. Dass zum Leben auch der Tod gehört, scheint nicht akzeptiert. Und wenn, dann ist der Tod immer negativ. Dass er aber auch etwas Gutes, ja für manche auch Erlösendes haben kann, möchten viele nicht sehen. Selbst über den Tod reden möchten viele nicht, da sie sonst Angst haben, es könne sie treffen. Jeder muss sterben, das ist sicher. Das ist nicht eine Frage des ob, sondern des wann. Ich glaube, wenn wir uns den Tod wieder bewusster machen und ihm wieder einen Platz in unserer Welt einräumen, dann würden wir viel bewusster leben. Zumindest geht es mir so, seit ich dem Tod durch meine Mutter so nahe gekommen bin.
Aktive Sterbehilfe, passive Sterbehilfe, begleiteter Freitod – die meisten Menschen werfen diese Termini durcheinander. Wie wichtig ist es, diese Begriffe auseinander zu halten?
Wenn man über ein Thema redet, dann muss man sich auf die Begriffe verständigen und diese definieren. Es gibt ja nicht ohne Grund eine Fachsprache. Ich muss immer wieder mit dem Kopf schütteln, wenn ich Artikel zum Thema Sterbehilfe-Debatte in Deutschland lese. Da wird teilweise wirklich willkürlich mal von aktiver, dann von passiver Sterbehilfe gesprochen. Meiner Meinung nach hat auch die Politik versäumt, die Begriffe differenziert und gezielt zu verwenden. Die Medien nehmen das auf und tragen es weiter. Das trifft leider auch bei anderen Themen zu. Deshalb verwende ich gerne die Begriffe begleiteter Freitod oder Suizidbeihilfe.
Was haben Sie in dem Moment empfunden, als Ihre Mutter den Hebel gedrückt hat?
Alles und nichts. Enorme Trauer, sie zu verlieren und Dankbarkeit, dass sie sich selbstbestimmt erlösen kann. Dass sie ihren Weg gehen kann, der für sie Befreiung aus ihrem selbstempfundenen Gefängnis bedeutet. Es ging so schnell, der eine Moment auf den wir uns so lange vorbereitet haben. Und plötzlich sitzt sie da, bäumt sich ein letztes mal auf und legt den Hebel um. Mir war immer klar, sie wird es durchziehen. Sie wird keinen Rückzieher machen. Ihr Wunsch, sich endlich zu befreien war so enorm stark, dass sie nichts davon abgehalten hätte. Das habe ich in dem Moment gespürt und es hat mich bestätigt, dass ich das richtige tue, wenn ich sie gehen lasse.
Das Recht auf einen selbstbestimmten Tod ist eine sehr private Entscheidung. Es schließt aber auch die Akzeptanz der Angehörigen, der Zurückbleibenden, ein. Wie haben Sie es geschafft, den Wunsch Ihrer Mutter zu akzeptieren?
Es war ein langer Weg und ein langer Kampf mit mir selber, mit Pros und Contras. Natürlich sind viele Fragen aufgekommen, wie: Mit welchen Selbstvorwürfen könnte ich zurück bleiben? Gibt es keinen anderen Weg? Habe ich wirklich genug getan? Was werden mir Freunde und Bekannte sagen? Kann ich mit möglichen Vorwürfen umgehen?
Es hat mich viel Zeit gekostet, all diesen Fragen auf den Grund zu gehen und meine Position zu finden. Ich saß wochenlang auf meinem Bett, habe nachgedacht, geschrieben und mich mit sehr guten Freunden ausgetauscht. Und ich habe „Ein ganzes halbes Jahr“ von Jojo Moyes gelesen und das Hörbuch von Samuel Koch gehört. Sich diese Zeit zu nehmen, ist glaube ich für Angehörige enorm wichtig um wirklich damit umgehen zu können und nicht Gefahr zu laufen, sich danach Selbstvorwürfe zu machen. Es war gut, dass der Entscheidungsprozess seitens der Schweizer Sterbehilfsorganisationen sehr langwierig gestaltet wurde und Angehörige und Freunde integrierte. Und genau dies würde für die Suizidbeihilfe in Deutschland sprechen: Dass Angehörige sich mit dem Wunsch des Freitods auseinandersetzen können, reden können und die Chance haben, Abschied zu nehmen. Wie viele Menschen, die heimlich einen Suizid begehen, können das nicht und lassen ihre Nächsten mit Fragen und Selbstvorwürfen zurück?
Wurden Sie auf diesem Weg von Familie und Freunden unterstützt?
Ja, sehr sogar. Anfangs fiel es mir schwer. Fragen wie „Wen kann ich ansprechen? Wo laufe ich Gefahr, dass es ggf. verhindert wird?“ schränken ein. Aber ich habe Mut gefasst und Freunde vorsichtig auf dieses Thema angesprochen. Ich war sogar überrascht, wie offen viele auf das Thema reagiert haben. Ich lebe zwar in der Schweiz, habe aber zum größten Teil deutsche Freunde. Ich dachte immer, daß das Thema in Deutschland schwieriger ist. Aber meine Erfahrung zeigt, dass die meisten dem offen gegenüber stehen und sogar ihrerseits sagen, dass sie froh wären, solche eine Option im Notfall zu haben.
Haben Sie ab und an daran gezweifelt, ob diese Entscheidung die richtige war?

Nachdem meine Mama den Weg gegangen ist, nie. Davor, während ich dabei war, meine Position zu finden, kamen Zweifel und Fragen hoch, ob es wirklich richtig ist. Wenn man sich mit dem Tod befasst, landet man notgedrungen immer bei der Sinnfrage. Ich kam aber zu dem Entschluss, dass der einzige, der über seinen Lebenssinn und sein Lebensglück entscheiden darf, nur die betroffene Person selber ist. Kein anderer. Jeder empfindet anders, jeder definiert Leben anders und jeder definiert sich als Mensch anders. Und da sich Mama ihrer Entscheidung sicher war und für sich ganz klar sagen konnte, „Ich kann so nicht glücklich sein, ich bin gefangen in meinem eigenen Körper, das bin ich nicht“ , habe ich ihre Entscheidung nie angezweifelt.

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