»JEDE GENERATION HAT IHRE EIGENEN SORGEN, KRISEN, BESCHRÄNKUNGEN UND AUFGABEN.« | 17.01.2023
Wie würden Sie »Der Ruf des Eisvogels« in wenigen Sätzen skizzieren?
Der Roman erzählt die Geschichte von Olga, die in einer beschaulichen Kleinstadt inmitten von dichten Wäldern, Feldern und tiefblauen Seen in einer gutsituierten Arztfamilie aufwächst. Mutterlos, kaum beachtet von ihrem Vater, dafür umso mehr von ihrem Großvater, der sie mit Witz und Wärme an die Wunder der Natur und Medizin heranführt. Als sich der Zweite Weltkrieg und seine entsetzlichen Folgen auch in der vermeintlichen Idylle nicht mehr ausblenden lassen, ist Olga gezwungen sich zu entscheiden. Will sie weiter tatenlos zusehen oder etwas tun und damit alles riskieren? Sie muss schließlich fliehen und findet auf ihrer Reise, entlang des tiefen gesellschaftlichen Wandels im Nachkriegsdeutschland, schließlich zu sich selbst. Es geht um Fragen nach Moral, nach Zugehörigkeit und Identität und den Kampf um persönliche Freiheit, gerade als Frau jener Zeit. Und nicht zuletzt geht es um die sich immer wieder erneuernde Kraft bedingungsloser Liebe.
Sie schreiben über die gemeinsame Geschichte von Olga, ihrer Tochter Becki und deren Tochter Sara. Wie würden Sie die drei Frauen charakterisieren?
Olga ist kämpferisch, lebenstüchtig und robust und dann auch wieder verletzlich und naturverbunden. Sie wächst in einem Männerhaushalt auf. Dank ihres fortschrittlichen, liebenden Großvaters, der sie mehr als jeder andere geprägt und erzogen hat, fühlt sich Olga von Anfang an den Männern ebenbürtig. Schon als kleines Mädchen ist sie Feministin, ohne das Wort dafür zu kennen. Sie will wie ihr Großvater sein und Ärztin werden statt Ehefrau und Mutter wie die Frauen ihrer Generation. Die schrecklichen Erlebnisse der Nazizeit und der unmittelbaren Nachkriegszeit verändern Olgas Blickrichtung und ihre Einstellung. Als die alten Gewissheiten nicht mehr gelten, gibt sie ohne Zögern ihre Ziele auf und kämpft bis zur Verleugnung darum, ihrer Tochter eine gute Mutter zu sein.
Becki ist impulsiv, mutig, neugierig, traut sich viel zu. Doch sie ist auch wie ein rastloser Vogel, der sich nirgendwo zuhause fühlt. Ihren Vater nicht zu kennen hat eine Leere hinterlassen. Vergeblich hofft sie, inneren Frieden an wechselnden Orten zu finden. Aber sie beginnt zunehmend, ihr Unvermögen in Frage zu stellen, sich zu binden, an Menschen oder Orte.
Sara ist klug, geradeaus, sie weiß, was sie will. Und das ist im Gegensatz zu ihrer Mutter vor allem Struktur, Planbarkeit und familiäre Bindung. In ihr spiegeln sich die unterschiedlichen Wesenszüge, das Durchdachte, Abwägende und Zupackende auf der einen Seite, das Unerschrockene und Leichte auf der anderen Seite.
Jede der drei Frauen definiert den Begriff von Freiheit auf eine andere Art und Weise. Was können wir dabei von den verschiedenen Generationen lernen?
Jede Generation hat ihre eigenen Sorgen, Krisen, Beschränkungen und Aufgaben.
Olga ist unmittelbar von den Erlebnissen der Nazizeit und den Folgen geprägt. In ihrer Jugend wurde eine freie Meinungsäußerung, wenn sie sich gegen die Nazis richtete, mit dem Tod bestraft. Noch als junge Frau, als das Naziregime Geschichte war, musste sich eine verheiratete Frau eine berufliche Tätigkeit von ihrem Ehemann genehmigen lassen. Äußere Freiheit ist also nichts Selbstverständliches, man muss sie sich erkämpfen. Insofern war Olgas Leben ein Kampf um Freiheit. Auch um die innere Freiheit, die in der Regel der äußeren folgt. Ihr Leben lang hat sie sich, so gut es eben ging, über Zuschreibungen hinweggesetzt, darüber, dass man ihr als Frau weniger zutraute. Von ihr können wir lernen, dass äußere Freiheit verteidigt werden muss und innere Freiheit mit Sinn gefüllt werden sollte, damit sie nicht als Leere empfunden wird. Von Becki und Sara dagegen können wir uns abschauen, mehr Güte für uns selbst zu haben und nachsichtiger zu werden mit den eigenen Mängeln und Fehlern. Und vor allem, dass wahre innere Freiheit nur mit dem Mut einhergeht, sich der Wahrheit zu stellen.
Olgas Tochter und Enkeltochter wünschen sich, mehr über ihre Familiengeschichte zu erfahren. Warum fällt es Olga – wie so vielen Menschen ihrer Generation – so schwer, über die Vergangenheit zu sprechen?
Weil Olga einerseits den Schmerz begraben und den Blick lieber nach vorne richten will. Diese Geheimnistuerei zeichnet ja diese Generation aus. Viele haben all ihre Kraft und Energie in den Aufbau einer neuen Existenz gesteckt, eine zunächst sinnvolle Strategie, um nicht fühlen zu müssen. Und anderseits aus Scham und Angst und weil sie Becki schützen will, ohne zu bemerken, dass ihre Tochter den Verwundungen trotzdem oder gerade deshalb nicht entkommen kann. Schon allein, weil sie spürt, dass etwas Unausgesprochenes wie ein Nebel über allem liegt.
Sie beschreiben die Auswirkungen des Zweiten Weltkriegs, thematisieren unter anderem Zwangsarbeit, Flucht und Zwangsabtreibungen. Wie sind Sie bei der Recherche vorgegangen?
Zuerst habe ich mich an die allgemeine Recherche gemacht und mir einen Überblick verschafft. Ich habe Fachbücher und Zeitschriften gelesen, im Internet oder in Archiven recherchiert. Als es um Fragen zur Zwangsarbeit oder Zwangsabtreibungen ging, habe ich verschiedene HistorikerInnen interviewt und unter anderem eine sehr informative Führung durch das ehemalige Zwangsarbeiterlager in Niederschönenweide in Berlin gemacht.
Gibt es in Ihrer Familiengeschichte Personen oder Ereignisse, die Sie zu Ihrem Roman inspiriert haben?
Inspiriert haben mich die schriftlichen Erinnerungen meines Urgroßvaters, der Landarzt in Pommern war und, wie Olgas Familie, in einer Kleinstadt inmitten von Seen und Wäldern gelebt hat. Er war, wie Olgas Großvater Pa, sehr naturverbunden. Eine seiner Töchter hat ihn stets auf seinen Hausbesuchen begleitet, so wie Olga Pa, und sich dabei viel medizinisches Fachwissen und die Begeisterung für den Heilberuf erworben. Ein Studium der Medizin kam für sie aber nicht in Frage, das war allein den Söhnen der Familie vorbehalten.
Ihre Protagonistin Olga wächst in einer Ärztefamilie auf und wird von ihrem Großvater von klein auf an die Wunder der Natur und der Medizin herangeführt. Sie stammen selbst aus einer Ärztefamilie – gibt es Parallelen zwischen Olgas Erfahrungen und Ihren?
Mehr als mir lieb sind. ☺
Als Tochter eines Hausarztes bin ich in einer Welt voller Krankheiten aufgewachsen. Zum Beispiel beim Mittagessen, wenn mein Vater, anonymisiert natürlich, die kuriosesten Krankheitsgeschichten des Tages mit uns teilte. Oder die nicht sehr ansprechenden Bilder von fiesen Geschwüren, die uns von Covern irgendwelcher Ärztezeitschriften, die überall zuhause herumlagen, entgegenblickten und einem nicht mehr aus dem Kopf wollten. Unpraktisch auch, dass mein Vater darauf bestand, uns nach einem blutigen Sturz gleich selbst und vor Ort zu nähen oder jeden Versuch durchschaute, wenn wir Fieber simulierten, um die Mathearbeit nicht mitschreiben zu müssen. Es heißt ja, dass man umso kränker ist, je häufiger man beim Arzt sei. Ich denke, viele Arztkinder werden mir zustimmen, dass zumindest die Zahl der eingebildeten Krankheiten zunimmt, wenn man mit einem Arzt unter einem Dach wohnt.
Was ich darüber hinaus mit Olga teile, ist die bisweilen leidvolle Erfahrung, dass der Arzt zumindest früher rund um die Uhr verfügbar zu sein hatte. An Heiligabend, eine halbe Stunde vor Abfahrt in den Sommerurlaub, Sonntagabends während des Familienessens, mitten in der Nacht, immer riefen Patienten an und verlangten, dass mein Vater unverzüglich zum Hausbesuch antreten sollte. Was er aus Pflichtgefühl auch meist tat. Selbst beim Einkaufsbummel durch die Oldenburger Innenstadt blieb er nicht verschont. So wenig wie wir, die danebenstanden und zuschauen mussten, wie sich wildfremde Patienten vor uns entblößten, um meinem Vater Hautausschläge auf dem Rücken zu präsentieren oder ihren Mund weit aufrissen und von ihm forderten, mal einen Blick auf den geschwollenen Rachen zu werfen.
Nach dem Krieg flieht Olga nach Oldenburg, wie Ihre Großeltern. Sehen Sie ihre Geschichte durch Ihren Roman mit anderen Augen?
Auf jeden Fall. Meine Großeltern sind Ende der 40er Jahre nach Oldenburg geflüchtet, aus Pommern über die russische Besatzungszone. Aus Erzählungen weiß ich, wie fremd sie sich in den ersten Jahren gefühlt haben. Erst die Recherche zum Buch aber hat mir gezeigt, wie tough das Klima für Flüchtlinge in Oldenburg und auch anderswo war. Und wie unwillkommen meine Großeltern tatsächlich waren und welchen Anfeindungen sie vermutlich ausgesetzt waren.
»Der Ruf des Eisvogels« ist geprägt von starken und mutigen Frauenfiguren. Was macht die Frauen so stark?
Die Liebe und das Leid, denke ich. Zu wissen, dass es jemanden gibt, der bedingungslos für einen da ist und an einen glaubt, hat Olga die Kraft gegeben, sich durchzubeißen und für das Richtige zu kämpfen. Und ihr die Fähigkeit gegeben, diese Liebe und Kraft an ihre Mädchen weiterzugeben.
Und dann das Leid. Die Schmerzen, die Olga und Becki erlebt haben, während sie durch die dunklen Täler durchmarschiert sind, haben ihnen Tiefe und Stärke verliehen, gerade weil sie sie durchgestanden und gelernt haben, dass das Leben auch wieder gut werden kann.
Sie erzählen von den Auswirkungen des Zweiten Weltkriegs, doch auch von außergewöhnlichen Freundschaften, von Mut und Liebe. Gab es eine Szene, die Ihnen im Schreibprozess besonders schwerfiel – und eine, die sie besonders gern geschrieben haben?
Leicht fielen mir die Szenen in der Natur mit Pa zum Beispiel oder Olgas unbeschwerte Woche in Italien. Nach all dem Düsteren, das Olga erlebt hat, sehnte ich mich richtig nach den hellen, leichten Momenten, den Lichtblicken, die mich wieder an das Gute im Menschen glauben ließen.
Die Szenen in Kühlungsborn waren nicht einfach. Nicht, dass mir das Schreiben der Szenen schwerfiel, aber das, was Olga dort erlebt hat, was derzeit viele Frauen in der Ukraine und anderswo erleben, geht beim Schreiben noch mal ganz anders an die Substanz.