Der glücklichste Mann von Pori | 20.09.2023
Text: Margarete von Schwarzkopf
In Skandinavien leben laut diverser Umfragen seit längerer Zeit die glücklichsten Menschen in Europa. An dieser Auffassung hat sich auch während der Covid-Pandemie nichts geändert. Selbst wenn, wie Arttu Tuominen selbst sagt, in Finnland die Selbstmordrate sehr hoch ist, gelten die Finn:innen als besonders glücklich, und Arttu wurde 2021 sogar zum zufriedensten Mann seiner Region und seiner Heimatstadt Pori, rund 250 Kilometer westlich von Helsinki am Bottnischen Meerbusen, gewählt. »Ich will nicht leugnen, dass ich zufrieden bin mit meinem Leben«, sagt der Autor, der mit Frau und drei Kindern in Pori lebt, dort, wo er seit seiner Geburt am 16. November 1981 fast sein ganzes Leben verbracht hat. Er liebt diese Stadt, die schon fast selbstzum Charakter in seinen Büchern wurde und umgeben ist von einer Landschaft mit vielen Reizen. Das Meer ist nicht weit entfernt, und die Stadt mit ihren rund 80.000 Einwohnern, 1558 gegründet, ist überschaubar, harmonisch und mit interessanten Gebäuden, geschaffen vom Architekten Carl Ludwig Engel, geboren in Berlin, 1840 in Helsinki gestorben.
Von den 1940-er Jahren in der Ukraine bis ins heutige Finnland
Natürlich geschehen auch hier Verbrechen. Dennoch ist es eine eher friedliche Gegend, in der es sich gut leben lässt. Kein Wunder, wenn Arttu gesteht, dass er allen Grund zur Zufriedenheit hat. Noch hat er seinen »Brotjob«, aber er hofft, sich bald nur noch »dieser Berufung«, dem Schreiben, widmen zu können. Er ist auf dem besten Wege zu diesem Traum. In Finnland ist gerade der vierte Band seiner Serie über sein Ermittlerteam um Jari Paloviita, Henrik Oksman und Linda Toivonen erschienen. Im dritten Teil, der jetzt auf Deutsch vorliegt, finden sich die Opfer mehr im Zentrum der Handlung als die Ermittler:innen. Es sind Opfer sowohl von Mordanschlägen als auch Opfer von Horrortaten im Zweiten Weltkrieg. WAS WIR NIE VERZEIHEN spielt auf zwei Zeitebenen, zum einen in den 1940er-Jahren in der Ukraine und zum anderen im heutigen Pori.
Finnische Freiwillige bei der deutschen Waffen-SS
Nach dem Anschlag auf den fast 98-jährigen Albert, Insasse eines Altenpflegeheims, ist die Truppe um Jari alarmiert. Wer hätte ein Motiv, einen so alten Mann zu töten, ihn erhängen zu wollen, wie sich bei den Ermittlungen herausstellt? Jari, den sein Privatleben und seine immer weniger glückliche Ehe mit Terhi bedrückt, ist zunächst nicht bei der Sache. Aber dann stirbt ein ebenfalls uralter Mann, Klaus Helminen, der erhängt im Wald aufgefunden wird. Dass beide Taten zusammenhängen, ist eindeutig. Doch wer oder was steckt hinter dieser »Hinrichtung«? Jari beginnt sich mit Hilfe von Linda und Henrik in den merkwürdigen Fall hineinzuarbeiten und entdeckt eine Verbindung in die Vergangenheit. Albert und Klaus waren beide bei der Waffen-SS als Freiwillige. Und darin muss der Ursprung dieser Racheaktion an den alten Männern liegen.
Genaue Recherche der historischen Fakten
»Auf die Idee, mich mit dem Thema der finnischen Freiwilligen bei der SS während des Zweiten Weltkrieges zu befassen und sie zur Basis meines dritten Krimis zu machen, bin ich eher durch Zufall gekommen«, erzählt Arttu. »Während einer Busfahrt las ich in einem Magazin darüber. Bisher war wenig von Verwicklungen finnischer Soldaten in der Nazi-Zeit bekannt. Nach dem Krieg wurde nicht drüber gesprochen, alles blieb geheim, und die Überlebenden aus jener Zeit schwiegen eisern. Sie verdrängten dieses sehr dunkle Kapitel. Etwa 1.400 Finnen meldeten sich zum Dienst in der SS. Viele der Division ‚Wiking‘ starben, und diejenigen, die zurückkehrten, kämpften dann gegen die Sowjets und wurden zum Teil später als Kriegsveteranen wie Helden geehrt.« In der Aufarbeitung der Geschichte aber blieb der Einsatz der finnischen Freiwilligen lange ein Geheimnis, da es keine vertrauenswürdigen Zeugen mehr zu geben schien. »In den letzten Jahren aber wurde immer mehr darüber geforscht und publiziert. Ich selbst musste sehr gründlich recherchieren. Auch wenn meine Figuren wie Albert oder Klaus fiktiv sind, war es essenziell, dass die historischen Fakten stimmen.«
Gebrandmarkt durch Schuld
Die Recherche war sehr umfassend. Arttu studierte Hunderte von Seiten, sprach mit Fachleuten, vor allem, was ein sehr bedeutendes Thema aus dieser Vergangenheit betrifft: »Viele der Heimkehrer littenunter dem, was heute posttraumatische Belastungsstörung genannt wird. Damals gab es diesen Begriff noch nicht. Und mancher junge Mann, der in den Krieg zog und die Gräueltaten unter den Nazis zumBeispiel in der Ukraine erlebte, kam als ein anderer Mensch zurück, für immer gebrandmarkt durch seine Schuld und dadurch, was er als Zeuge gesehen hatte. Viele dieser Männer, die von Haus aus sicherlich keine grausamen Bösewichter waren, wurden durch diese Erfahrungen seelisch verkrüppelt und wollten oft auch aus Scham darüber nicht reden und alles möglichst verdrängen.«
Die Vergangenheit ist Teil von uns
Wie schon in den beiden ersten Büchern geht es in Arttus Geschichte um Schuld, Sühne, Rache und Vergebung, aber auch um Taten, die nach menschlichem Ermessen unverzeihlich sind. Eine Rolle spielt in der Handlung das Märchen vom Mädchen mit den Schwefelhölzern von Hans Christian Andersen. Vergeblich versucht das Kind durch seine Streichhölzer die Dunkelheit zu vertreiben, und ebenso vergeblich kämpft Albert um Licht in der eigenen Finsternis seines Gewissens. Das Mädchen findet am Ende Erlösung und kehrt ein in die Freudenfeier des ewigen Weihnachten, Albert, beladen von den Vergehen aus seiner Jugend, hofft nicht auf diese Gnade. Das Bewusstsein seiner Taten verdeckt das Licht, selbst wenn er hofft, sich der Verantwortung und dem Wissen um seine Vergangenheit durch Verneinen entziehen zu können. »Die Vergangenheit, das wissen wir, bleibt immer da, ist Teil der Gegenwart und irreparabler Teil der eigenen Biografie.«
Die Ambivalenz der Charaktere
Das Mädchen mit den Schwefelhölzern ist ein sehr starkes symbolisches Bild, das zeigt, dass Albert kein Monster ist, sondern ein ambivalenter Mensch. »Bei mir gibt es nicht schwarz oder weiß. Alle meine Figuren tragen auch einen Hauch von Dunkelheit in sich«, sagt Arttu. »Zum Beispiel Oksman, dem der zweite Band gewidmet war. Er muss immer wieder mit seinen Dämonen ringen. Und so haben auch die ‚Guten‘ in meinen Büchern oft große Bürden zu tragen und sind keine makellosen Gestalten.« Jaris wachsende Verzweiflung, in einer inzwischen trostlosen Ehe gefangen zu sein, gehört genauso zum Plot wie in Band zwei Oksmans Geheimnis, das er versucht hat zu wahren: seine Homosexualität.
Moral spielt eine elementare Rolle
»Ich glaube, meine Leserschaft will auch in meinen Ermittler:innen Abgründe sehen. Und obwohl sie sich mit all diesen allzu menschlichen Erfahrungen tagtäglich auseinandersetzen müssen, sind sie doch Teil von Recht und Moral. Und Moral spielt in meinen Büchern eine wichtige Rolle.« Im vierten Band wird es vor allem um Lindas komplexen Charakter und ihre Verletzlichkeit gehen, im fünften Band rückt die Chefin der Truppe ins Rampenlicht. »Und in Band sechs, dem Finale meiner Reihe, werden dann die letzten Geheimnisse gelüftet, die letzten Fragen beantwortet und zu einer Lösung gebracht. Allerdings kann ich nicht garantieren, dass es ein Happy End im üblichen Sinn geben wird. Mich reizt es, die Leser:innen zu überraschen, nicht erahnte Wendungen einzubauen und von gewissen Erwartungenabzuweichen.«
Sechsteilige Reihe
Alle sechs Bände zusammen sollen am Ende wie ein großer Roman mit sechs Kapiteln sein. Mehr als diese geplanten sechs Bücher der Reihe sollen es aber leider nicht werden. Denn Arttu hat, wie er sagt, »sehr, sehr viele Ideen für viele weitere Bücher, die aber von anderen Charakteren handeln müssen. Deshalb ist wirklich nach dem sechsten Buch Schluss, und danach kommt wahrscheinlich eine dreiteilige Reihe, an der ich aber noch nicht konkret arbeite. Erst einmal muss Band sechs noch geschrieben werden, für mich sehr hart. Denn mit ihm verabschiede ich mich von Figuren, die mir nahestehen, und die oft genug in mein Schreiben eingegriffen und mich beeinflusst haben. Sie sind für mich sehr lebendig und haben den Plot vorangetrieben oder sogar verändert.«
Der Krimi made in Finland
Arttu Tuominens Romane sind vor allem »character driven«. Die Handlung rankt sich um seine Figuren. Das macht sie so spannend, denn so wichtig Action und die Ermittlungsarbeiten auch sind, steht bei ihm mehr die Frage nach dem Warum einer Tat als das Wer im Mittelpunkt. Das birgt ein gewisses Suchtpotential und beweist einmal mehr, dass der Krimi made in Finland inzwischen mit den anderen Skandinavier:innen mithalten kann. Warum Finnland seit einigen Jahren mit Autor:innen wie Max Seeck, Arttu Tuominen, Leena Lehtolainen und Taavi Soininvaara bei der deutschen Leserschaft besonders punktet, versucht Arttu zu erklären: »Wir haben noch viel unerforschtes Territorium und viele Schauplätze, die sich wunderbar für Krimis eignen. Und eine Vielfalt an bemerkenswerten Typen. Immer mehr Menschen kommen nach Finnland als Tourist:innen, aber vielleicht hilft der Krimi dabei, auch andere Aspekte hier neben unserer vielseitigen Landschaft zu entdecken. Schweden ist seit langem Vorreiter und unser Vorbild, aber ich glaube, wir können, ohne in Konkurrenzdenken zu verfallen, inzwischen mithalten. Und unsere Sprache ist längst kein Hindernis mehr, da es viele gute Übersetzer:innen gibt, die für uns diese Hürde beseitigen.« Frei nach Theodor Fontane kann man mit Recht sagen: »Der finnische Krimi ist ein weites Feld.«