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"Dieses fast neunzig Jahre alte Buch ist hochaktuell."
Eichborn-Verlagsleiter Dominique Pleimling spricht im Interview über "Der Beginn der Barbarei in Deutschland".
„Der Beginn der Barbarei in Deutschland“ ist erstmals vor mehr als 80 Jahren erschienen. Jetzt erscheint es erneut im Eichborn Verlag. Wie sind Sie auf das Buch aufmerksam geworden?
Auslöser war ein Artikel von Hilmar Klute in der Süddeutschen Zeitung, der über dieses Buch schrieb. In seinem Text ging es um die Vergleiche, die momentan zwischen der wackelnden Weimarer Republik und unserer Zeit gezogen werden. Klute zeigt, wie unzutreffend die meisten dieser Vergleiche sind. Die demokratischen Rahmenbedingungen sind heute vollkommen anders, und auch die Lebensumstände im damals von der Wirtschaftskrise verheerend getroffenen Deutschland sind mit den unseren nicht vergleichbar. Dennoch gibt es Parallelen, die erschrecken und sehr aktuell sind. „Der Beginn der Barbarei in Deutschland“ ist hierfür eine hervorragende Quelle und ein guter Grund, dieses 1933 verbrannte und lange Zeit vergessene Buch wieder aufzulegen. Es ist ein Zeitdokument, das uns helfen kann, heutige Geschehnisse besser einzuordnen. Das uns aber auch zeigt, dass man bei aller Unterschiedlichkeit der Epochen auch in unserer Zeit Demokratie nicht als etwas Selbstverständliches hinnehmen darf.
Wer war Bernard von Brentano?
Bernard von Brentano stammte aus einer alten, katholischen, großbürgerlich-adligen Familie mit italienischen Wurzeln. Zu seiner Verwandtschaft gehörten etwa der Schriftsteller Clemens Brentano und dessen Schwester Bettina von Arnim; ebenso wie eine Reihe bekannter Politiker und Wissenschaftler. Er war Journalist und wurde 1925 Berlin-Korrespondent des Feuilletons der Frankfurter Zeitung – auf Empfehlung des Schriftstellers Joseph Roth. 1930 wechselte Brentano zum Berliner Tageblatt. Politisch stand er links, sah die dramatischen Auswirkungen eines entfesselten Kapitalismus und sympathisierte mit sozialistischen Ideen.
Und worum geht es in seinem Buch?
Das Buch ist das Ergebnis einer intensiven Recherche. Von 1930 an reiste Bernard von Brentano regelmäßig durch das Land, um herauszufinden, welche Folgen die Weltwirtschaftskrise hatte, von der Deutschland mit voller Wucht getroffen wurde. Er besuchte Menschen, deren Existenz durch die Krise vernichtet worden war, ging dorthin, wo das Elend sichtbar wurde. Sprach mit Arbeitern, die nicht wussten, wie es weitergehen würde, mit Arbeitslosen, die hungerten, mit Bauern, deren Höfe vor dem Aus standen, schilderte die verzweifelte Lage von Familien, die von Obdachlosigkeit bedroht waren oder ihre Wohnung bereits verloren hatten, lieferte Stimmungsbilder aus den Stadtvierteln, in die sich die Angehörigen der Oberschicht nie hin verirrten. Ein riesiger Teil der Bevölkerung spürte zu Beginn der Dreißigerjahre die Auswirkungen der Weltwirtschaftskrise unmittelbar; schätzungsweise war die Hälfte der Erwerbstätigen davon betroffen. In Brentanos Buch wird diese Dimension erst richtig deutlich.
Wie wurde sein Buch in den 30er Jahren aufgenommen?
Nach der Machtübernahme der NSDAP wurde „Der Beginn der Barbarei in Deutschland“ verboten und kam auf die Liste der zu verbrennenden Bücher. Bernard von Brentano und seine Frau emigrierten in die Schweiz.
Warum veröffentlicht Eichborn einen Text von 1932? Wie passt das Buch in die heutige Zeit?
Der Titel „Der Beginn der Barbarei in Deutschland“ bezieht sich nicht – wie auf den ersten Blick vielleicht viele denken – auf die Anfänge der Nazi-Herrschaft, auch wenn er dafür passend wäre. Doch als das Buch erschien, konnten sich die meisten Menschen noch nicht vorstellen, was auf sie zukommen würde. Vielmehr ist mit dem Titel gemeint, wie die Auswirkungen eines außer Kontrolle geratenen Kapitalismus zu einer Destabilisierung der Gesellschaft führen. Zu einem Überlebenskampf der Armen, gnadenlos, würdelos, ein Rückschritt in eine barbarische Gesellschaftsstruktur, in der zivilisatorische Errungenschaften durch die Strukturen des krisengeschüttelten Marktes außer Kraft gesetzt werden. Und auch wenn die Bundesrepublik Deutschland nicht die Weimarer Republik ist erleben wir global gesehen das Gleiche auch in unserer Zeit. Der Raubtierkapitalismus heutiger Prägung hat die Welt an den Rand des Kollapses gebracht, während weltweit Populisten auf dem Vormarsch sind. Und deshalb ist dieses fast neunzig Jahre alte Buch hochaktuell.
Die Erben des Autors Bernard von Brentano standen der Neuauflage zunächst skeptisch gegenüber. Warum und wie konnten Sie sie davon überzeugen, die Wiederveröffentlichung zu genehmigen?
Bernard von Brentano starb 1964 und war in seinen späteren Jahren von diesem Frühwerk abgerückt, das seine Sympathie für sozialistische Ideen durchscheinen lässt. Die politischen Entwicklungen machten ihm im Laufe der Jahre klar, dass ein Staatssozialismus keine Lösung für eine bessere Welt sein kann. Seine Söhne waren nach anfänglichen Bedenken mit der Veröffentlichung einverstanden. Ihnen war wichtig, die gewandelte Einstellung von Bernard von Brentano aufzuzeigen und das Buch nicht einfach neu aufzulegen. Professor Roman Köster hat mit seiner ausführlichen Einführung zur Entstehungsgeschichte und zu den historischen Hintergründen für eine Einordnung des Textes gesorgt. Und zum anderen, weil die Neuauflage dieses Buches dazu beiträgt, die Weltwirtschaftskrise von 1929 – die viele Menschen heute nur dem Namen nach kennen – und ihre dramatischen Folgen besser zu verstehen.
Inwiefern unterscheidet sich die Neuauflage von Eichborn von der ursprünglichen Ausgabe?
Neben der bereits genannten Einführung gibt es ein Vorwort der Söhne von Bernard von Brentano, ein Personen- und Sachregister und eine weiterführende Literaturliste mit Quellenangaben.
Wer sollte das Buch unbedingt lesen?
Alle, die wissen möchten, welche wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Entwicklungen seinerzeit den Weg in Richtung Gewaltherrschaft frei machten. Und alle, die heute immer noch glauben, dass der Markt alles regeln wird.
Wem würden Sie das Buch gern überreichen und welche Widmung stünde drin?
Allen Wahlberechtigten. Mit der Widmung oder besser Warnung: Eine Demokratie kann sich auch selbst abschaffen.