„Machterhalt war Merkel wichtiger als die langfristige Sicherheit Deutschlands“ | 01.03.2024
Dr. Himmelreich, warum hat der Krieg Putins die meisten von uns in Deutschland so unerwartet getroffen – trotz vieler Warnungen?
Deutschland hat politisch, historisch, wirtschaftlich und kulturell so enge und wechselseitige Beziehungen zu Russland wie kein anderes Land. Das hat über Jahrhunderte hinweg immer wieder zu einer deutschen Verklärung Russlands geführt. Diese Verklärung hat Putins Politik schöngeredet und deren Gefahr für Deutschland und Europa ignoriert.
Wie war Ihre persönliche Sicht auf den Kriegsbeginn und wie haben Sie den weiteren Verlauf der russischen Invasion erlebt?
Der Kriegsbeginn hat alle meine seit 2005 geäußerten Befürchtungen über Putin – leider – bestätigt. Dass die über Monate zuvor aufgebaute, dauerhafte Verlagerung von über 100.000 russischen Soldaten an die Grenze zur Ukraine nicht nur einer Spielerei Putins entsprach, war nach dem russischen Einmarsch nach Georgien 2008, der Krim-Annexion und der Besetzung ostukrainischer Regionen 2014 wenig verwunderlich. (Allerdings hatte ich gedacht, dass Putin es als weiteren „Zwischenschritt“ zunächst bei einer Besetzung weiter Regionen der Ukraine belässt und nicht größenwahnsinnig mit einer geplanten Besetzung Kiews sofort sich die gesamte Ukraine einverleiben will.)
Ihr aktuelles Buch heißt „Die deutsche Russland-Illusion“ – was meinen Sie damit?
Diese besondere deutsche Verklärung Russlands hat sich historisch zu einem wahren „Russland-Komplex“ entwickelt. Aus diesem Komplex heraus haben wir uns alle nach dem Zusammenbruch der UdSSR Illusionen gemacht: Illusionen über Russlands Demokratie, seine Marktwirtschaft und vor allem Illusionen über seine Orientierung nach Europa.
Wie ist es möglich, dass sich nicht nur in der Bevölkerung, sondern augenscheinlich auch innerhalb der politischen Führungsriege eine so massive Illusion halten konnte?
Die politische Führungsriege klammerte sich an diese Illusion, weil sie dem eigenen innerdeutschen Machterhalt bestens nützlich war. Schröder diente sie dazu, die Interessen der Energiewirtschaft zu bedienen, und innerparteilich die Russland-Verklärung in Teilen der SPD zu befriedigen. Merkel fehlte die politische Courage, die innenpolitische Diskussion über Alternativen zu ihrer „Appeasement“-Politik gegenüber Putin zu beginnen. In steter Sorge um ihren innenpolitischen Machterhalt wollte sie den deutschen Bürger nicht aus seinem sicherheitspolitischen Dornröschenschlaf des „Alles-ist-gut“ wecken.
Welche Fehler haben die Regierungen Europas im Umgang mit Russland gemacht?
Für Putin zählt immer nur die militärische Macht in all ihren brutalen Äußerungen bis hin zum Völkermord. Diplomatie ist für ihn ein Zeichen westlicher Schwäche und wird von ihm nur taktisch benutzt, um temporär bestimmte Gebietsannexionen festzuschreiben oder sich Atempausen für den nächste militärischen Überfall zu verschaffen. Die Merkel-Bundesregierungen haben bis zum Schluss alleine auf diplomatische Lösungen gebaut, obwohl sie offensichtlich erfolglos waren. Damit hat man Putin nur ermutigt, seine Eskalation fortzusetzen. Aber der innenpolitische Machterhalt, den Diskussionen über Alternativen zur bloßen Diplomatie zu gefährden drohten, war der Ex-Kanzlerin wichtiger als die langfristige Sicherheit Deutschlands.
Was wäre aus Ihrer Sicht heute die beste Strategie, um Putin zu begegnen?
Es bedarf dringend einer Gesamtstrategie über das Ziel der Ukraine-Unterstützung und über alle dazu erforderlichen politischen, wirtschaftlichen und technischen Maßnahmen, die im Buch im Einzelnen vorgeschlagen werden. Die deutsche Politik muss endlich aufhören, sich ewig von der Überlegung leiten zu lassen, wie Putin auf unsere Verteidigungsmaßnahmen reagieren wird, und deswegen mit den dringenden Waffenlieferungen an die Ukraine jedes Mal erneut zu zaudern. Putin verfolgt sein Ziel der Zerstörung der gesamten Ukraine ganz unabhängig davon, was wir militärisch tun.
(Wie) wäre dieser Krieg vermeidbar gewesen?
Wenn man Putin nachdrücklich die Kosten seines Vorgehens verdeutlicht hätte. Hätte die Ex-Kanzlerin 2008 nicht den NATO-Beitrittsprozess für die Ukraine und Georgien blockiert, hätte Putin nicht gewagt, wenige Wochen später in Georgien einzumarschieren. Ohne diese fatale Fehlentscheidung Merkels 2008 hätte es kein 2022 gegeben.
Wie sehen Sie die Zukunft der deutsch-russischen Beziehungen mittel- bis langfristig?
Mit seiner Hinwendung nach China, Nordkorea und zum Iran hat Russland sich auf lange Zeit von Europa abgewendet. Es ist auf seine schon von Karl Marx diagnostizierten, historischen Spuren einer „asiatischen Despotie“ zurückgekehrt. Einen „kalten Frieden“ in Europa wird es auf lange Zeit nicht mehr mit, sondern nur noch gegen Russland geben, wie im Kalten Krieg unter ganz anderen Rahmenbedingungen auch.
Was verbindet Sie selbst mit Russland?
In Russland habe ich die spannendsten und aufregendsten Jahre meines Lebens verbracht. Ich habe viel Herzlichkeit und Gastfreundschaft gerade durch die ländliche Bevölkerung erfahren, über deren ärmliche Lebensverhältnisse wir uns keine Vorstellungen machen. Deren Liebe zur Großartigkeit ihres Landes lässt sie ihre Armut ertragen und jeden russischen Präsidenten akzeptieren oder gar bewundern, der das russische Imperium wiederaufzubauen verspricht
Was wollen Sie mit Ihrem Buch zu unserer deutschen Sicht auf Russland beitragen?
Dass wir Deutschen uns endlich von der politischen Verklärung Russlands und diesem Russland-Komplex befreien und es nüchtern beurteilen. Das erfordert eine fast revolutionäre Neuorientierung unseres Geschichtsbewusstseins gegenüber Russland. Die ist wichtiger als alle militärischen Waffen. Wie AfD, die Linke und das Bündnis Sahra Wagenknecht nutzt Putin diesen deutschen Russland-Komplex, um den gesellschaftlichen Zusammenhalt in Deutschland zu zerstören. Wenn uns die Befreiung von dem deutschen Russland-Komplex nicht gelingt, wird Putin diesen Krieg gewinnen.