"Das Wissen um unsere Geschichte ist entscheidend für die Gestaltung unserer Zukunft | 19.07.2022
Denk ich an Kiew ist ein fesselnder und bewegender Roman, der die Geschichte von Katja im Jahr 1929 und in den frühen 1930er-Jahren in der Ukraine erzählt. Jahrzehnte später entdeckt Katjas Enkelin, die junge Witwe Cassie, das Tagebuch ihrer Großmutter, das lang verborgene Geheimnisse ihrer Vergangenheit enthüllt. Wie ist die Idee zu Ihrem Roman entstanden?
Meine ukrainische Urgroßmutter lebte bei uns, als ich ein Kind war, und ich habe viel Zeit mit ihr verbracht. Ihre ukrainischen Wurzeln faszinierten mich, und als ich älter wurde, begann ich zu recherchieren, wie die Familiengeschichten, die ich von ihr und über sie gehört hatte, in die größere historische Erzählung der Ukraine passen.
Wie viel von Ihnen steckt in der Figur der Cassie?
Cassies Geschichte ist mehr ein Wunsch, den ich für mich selbst habe, als ein Spiegelbild. Ich habe Cassie den Schlüssel zu ihrer Vergangenheit gegeben, den ich mir wünsche. Ich habe das Glück, dass ich noch meinen Großonkel habe, der in der Ukraine geboren wurde und als Kind die Flucht durch Europa während des Zweiten Weltkriegs miterlebt hat. Er war eine unschätzbare Hilfe, aber ich werde nie aufhören, mir zu wünschen, ich könnte noch einmal ein Gespräch mit meiner Urgroßmutter führen, über ihr Leben als Frau und als Mutter.
Gekonnt verknüpfen Sie zwei Zeitebenen in Ihrem Roman, die Gegenwart mit der Geschichte Ihrer Protagonistin Cassie und die Vergangenheit mit ihrer Großmutter Katja.
Ich halte es für wichtig, die Verbindung zu erkennen, die wir letztendlich alle mit unserer Vergangenheit haben. Das Wissen um unsere Geschichte ist entscheidend für die Gestaltung unserer Zukunft. In meinem Roman gibt es eine Parallele in Cassies und Katjas Leben: Beide haben mit dem Verlust ihres geliebten Mannes zu kämpfen. Die Themen Liebe und Verlust sind zeitlos. Wir alle haben irgendwann in unserem Leben geliebt und verloren, das ist ein wesentlicher Teil der menschlichen Erfahrung, egal wann und wo man lebt. Es ist wichtig, sich daran zu erinnern, dass uns diese Erfahrungen miteinander verbinden. Genauso wichtig ist es, zu wissen, woher wir kommen und woher die Menschen kommen, die uns großgezogen haben. Ihre Erfahrungen, die Erfahrungen ihrer Eltern und Großeltern, prägen uns alle in irgendeiner Weise.
In Ihrem Roman lernen wir die ukrainische Kultur und Bräuche kennen, zum Beispiel das „Reden“ mit verstorbenen Menschen. Sie sind in den USA geboren, leben mit Ihrem Mann und Ihren Kindern in der Nähe von St. Louis, Illinois. Wie hat Sie persönlich die ukrainische Herkunft Ihrer Familie geprägt?
Ich liebte es, mit meiner Urgroßmutter Speisen wie Varenyky, Piroggen, zuzubereiten, und ich verbrachte Stunden damit, die Familienfotos und Volkskunstbilder aus der Ukraine zu betrachten, die in ihrem Zimmer an der Wand hingen. Jetzt hängen sie in meinem Büro, neben ihren Stickereien. Meine „Bobby“ hat meine Kindheit geprägt und jetzt prägt sie den Beginn meiner Schriftstellerkarriere, was ein großes Geschenk ist.
Auch Cassie nennt ihre Großmutter „Bobby“, eine Amerikanisierung des ukrainischen Wortes für Großmutter, babusya, in Kurzform baba. Inwieweit hat Ihre Großmutter Sie zu Ihrer Romanfigur inspiriert?
Die temperamentvolle Persönlichkeit von Cassies Bobby erinnert mich sehr an meine Bobby. Diese wilde, sture Stärke habe ich sehr an ihr bewundert. Ich frage mich oft, ob sie schon immer so war oder ob das Leben und die Notwendigkeit sie zu dieser Frau geformt haben. Grundsätzlich liebte meine Bobby es, Blumen zu pflanzen, Karten zu spielen und zu sticken, also habe ich Cassies Großmutter ähnliche Interessen mitgegeben. Viele Eigenschaften meiner Großmutter finden sich in meiner Romanfigur wieder, wie zum Beispiel ihre nüchterne Einstellung zum Leben, ihre Abneigung gegen die Verschwendung von Lebensmitteln und ihr akzentreiches Englisch. Eine meiner Lieblingsgeschichten, die ich in meinem Buch verwendet habe, erzählte mir meine Mutter. Sie glaubte ernsthaft, sie müsse bei jedem telefonischen Spendenanruf für gleich welchen Polizeifonds die Kreditkarte zücken. Sie hatte wirklich Angst, dass ihr Name auf eine Liste gesetzt würde oder dass sie des Nachts verhaftet werden würde, wenn sie nicht zahlte. Die traumatischen Erfahrungen, die sie unter dem repressiven Sowjetregime gemacht hatte, prägten sie so sehr, dass ihre Angst jahrzehntelang anhielt.
Welche Bedeutung haben diese Familiengeschichten für Sie als Autorin?
Sie bedeuten mir alles. Es gibt so viel zu gewinnen, wenn man sich die Geschichten derer anhört, die vor uns da waren. Ich erzähle meinen Kindern unsere Familiengeschichten, damit diese Erinnerungen für die nächsten Generationen lebendig bleiben. Als Autorin sind Historische Romane für mich ein hervorragendes Mittel, um oft vergessene Teile der Geschichte zugänglich und erfahrbar zu machen.
Durch das ukrainische Tagebuch ihrer Großmutter erfährt Cassie, was Katja in ihrer Jugend durchlitt: den Schrecken des durch Stalin absichtlich verursachten massenhaften Hungertods der ukrainischen Bevölkerung. Wann wurde Ihnen klar, dass der sogenannte Holodomor zum Thema Ihres Romans würde?
Als ich mich in die ukrainische Geschichte vertiefte, wusste ich kaum etwas über den Holodomor obwohl ich ukrainischer Abstammung war! Es war ein verheerender Genozid, dem schätzungsweise vier Millionen Ukrainer zum Opfer fielen. Das hat mich wirklich entsetzt, und so wollte ich eine Geschichte schreiben, die dazu beiträgt, diese Gräueltaten ans Licht zu bringen.
Was hat Sie bei Ihren Recherchen am meisten schockiert?
Mich hat erschüttert, dass diese Tragödie mit epischem Ausmaß bis zum Zusammenbruch der Sowjetunion weitgehend vertuscht wurde. Die meisten Menschen, mit denen ich sprach, hatten keine Ahnung, wie diese Terrorkatastrophe ablief: Aktivisten suchten mit Metallstangen nach versteckten Lebensmitteln in den Betten, jedes letzte Stückchen Nahrung und Saatgut wurde aus den Häusern gestohlen, die Grenzen wurden geschlossen und die Dörfer abgeriegelt.
Stalin, so heißt es im Nachwort Ihres Romans, „zog eine gute Show ab, ließ die Kollektivierung großartig klingen, und die Presse und seine Verbündeten kauften es entweder ab oder ignorierten es, oder sie logen sogar, wie der Pulitzerpreisträger Walter Duranty von der New York Times“. Haben Sie eine Ahnung, warum das so war?
Die Politik spielte dabei eine große Rolle. Die internationalen Journalisten in Moskau schlossen die Reihen gegen diejenigen, die sich dazu äußerten, und verleugneten sie, um ihre Positionen in Moskau zu behalten. Walter Duranty, ein bekannter Journalist der New York Times mit Sitz in Moskau, der es zu großem Ansehen und Reichtum gebracht hatte, indem er die Nachrichten aus Moskau in ein vorteilhaftes Licht rückte, leugnete die Hungersnot aktiv, und es war für alle einfacher, ihm zu glauben. Er schrieb, dass die Menschen „hungerten, aber nicht verhungerten“, und diese Darstellung war leichter verdaulich und entsprach der notwendigen politischen Reaktion der Zeit. In Europa nahm die Sorge zu, da Hitler immer mehr an Macht gewann. Die Vereinigten Staaten kamen gerade aus der Weltwirtschaftskrise heraus und arbeiteten an der Aufnahme diplomatischer Beziehungen zur UdSSR, ein Unterfangen, das mit der Verschärfung der Probleme in Deutschland und Japan noch wichtiger wurde. In gewisser Weise wurden das Schicksal und die Gerechtigkeit für die Ukrainer, die während des Holodomor gelitten hatten, für das geopfert, was einige als das größere Wohl betrachteten: die Aufrechterhaltung des Friedens mit der UdSSR.
Ihr Debüt ist in zwölf Länder verkauft worden. Wie haben Sie darauf reagiert, dass sich die Fertigstellung Ihres Buches mit Putins Überfall auf die Ukraine überschnitt?
Es ist entsetzlich und empörend, was passiert. Nach all den Jahren, die ich an diesem Roman gearbeitet habe, hätte ich mir niemals vorstellen können, dass es jemals zu einem weiteren brutalen Angriff auf die Ukraine kommen könnte. Ich denke, es ist eine wichtige Mahnung, dass wir uns der langen und schwierigen Geschichte zwischen der Ukraine und Russland bewusst sein müssen, um diesen Krieg auf einer tieferen Ebene zu verstehen, und dass wir alles in unserer Macht Stehende tun müssen, um sicherzustellen, dass sich die Geschichte nicht wiederholt.
Heute ist die Ukraine der zweitgrößte Weizenexporteur der Welt und der größte Produzent von Sonnenblumenöl. Mit der Seeblockade würgt Putin den Export ukrainischen Getreides ab und provoziert damit bewusst eine weltweite Hungerkrise.
Wieder einmal werden Lebensmittel als Waffe eingesetzt, obwohl diesmal die ganze Welt unter den Entscheidungen in Moskau leiden wird, nicht nur die Ukrainer. Zugleich erleben wir Putins Versuch, die Ukraine aus der Welt zu tilgen, wie es Stalin in den 1930er-Jahren getan hat. Die russische Regierung schreibt ihre Schulbücher um, um jede Erwähnung der Ukraine zu streichen, ihre Propagandamaschine arbeitet ständig daran, die einzigartige Geschichte, Kultur und Sprache der Ukraine zu leugnen, und jeden Tag werden wir Zeugen der Zerstörung von zivilen Häusern und ukrainischen Wahrzeichen.