Isabelle Lehn - Autor
© Sascha Kokot

Autorin

Isabelle Lehn

Isabelle Lehn wurde 1979 in Bonn geboren und lebt in Leipzig. Sie studierte in Tübingen und Leicester Allgemeine Rhetorik, Ethnologie und Erziehungswissenschaft mit Arbeitsschwerpunkten zu Propagandaforschung, Massenkommunikation und Medienwirkungen und wurde 2011 im Fach Rhetorik promoviert. Parallel zur Promotion absolvierte sie ein Studium am Deutschen Literaturinstitut Leipzig, wo sie nach Lehraufträgen und Gastdozenturen von 2013 bis 2017 als Wissenschaftliche Mitarbeiterin im Forschungsprojekt „Literarische Schreibprozesse“ arbeitete.
 
Ihr Debütroman „Binde zwei Vögel zusammen“ stand 2016 auf der Shortlist für den Ingeborg-Bachmann-Preis und wurde 2017 mit dem Förderpreis des Schubart-Literaturpreises ausgezeichnet.

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Interview

Im Interview: Isabelle Lehn über ihr Debüt "Binde zwei Vögel zusammen" | 16.06.2016

Wie und wann ist die Idee zu Ihrem Debütroman „Binde zwei Vögel zusammen“ entstanden?Am Anfang stand die zufällige Begegnung mit einer Augenzeugin, die für mehrere Wochen in einem bayrischen Militärcamp die Rolle einer Afghanin gespielt hat, um ISAF-Soldaten vor ihrem Einsatz auf das Zusammentreffen...

Wie und wann ist die Idee zu Ihrem Debütroman „Binde zwei Vögel zusammen“ entstanden?
Am Anfang stand die zufällige Begegnung mit einer Augenzeugin, die für mehrere Wochen in einem bayrischen Militärcamp die Rolle einer Afghanin gespielt hat, um ISAF-Soldaten vor ihrem Einsatz auf das Zusammentreffen mit der Zivilbevölkerung vorzubereiten. Daraus ist zunächst die Kurzgeschichte Aladdin, CoB entstanden, der Stoff erschien mir unglaublich.
Im Sommer 2014 habe ich begonnen, die Geschichte weiterzuschreiben, was sicherlich auch ein Versuch war, mit den hereinbrechenden Nachrichten und der Flut der verwechselbaren Kriegsbilder umzugehen. Ich habe mich gefragt, wie es Aladdins Darsteller Albert ergehen würde, wenn er nach seiner Kriegssimulation in eine Welt zurückkehren muss, in der die Inszenierung von der Wirklichkeit eingeholt wird.
Ihrem Roman vorangestellt finden sich die Zeilen: „Diese Geschichte ist wahr. Alle Namen und Orte sind austauschbar.“ Mögen Sie uns verraten, ob es eine reale Vorlage für die geschilderten Ereignisse im Roman gibt?
Das Schreiben entlang der Grenzen von Realität und Fiktion war für mich ein zentrales Verfahren des Romans. Die geschilderten Ereignisse könnten sich auf vergleichbare Weise auch in der realen bzw. als real inszenierten Welt eines solchen Trainingscamps abgespielt haben. Die Flüchtlingsgeschichte, die Albert für Aladdin imaginiert, wurde während des Schreibprozesses geradezu von der Realität überrollt. Und auch die medialen Inhalte, mit denen sich Albert nach seiner Rückkehr auseinandersetzt, finden sich in der virtuellen Realität wieder.
An einer Stelle schreiben Sie: „Binde zwei Vögel zusammen, sie werden nicht fliegen können, obwohl sie nun vier Flügel haben“. Dieses Zitat ist titelgebend für Ihren Roman. Wie hängt diese Metapher mit Alberts Geschichte zusammen?

Der Aphorismus stammt von einem anderen Namensvetter Aladdins, dem Sufi-Mystiker Dschelaladdin Rumi. Er repräsentiert die Doppelidentität des Protagonisten: Nach seiner Rückkehr ist Albert an Aladdins Erfahrung gefesselt. Sein Blick auf das Eigene hat seine Unschuld verloren. Er kann die fremde Perspektive nicht mehr ablegen und hinterfragt, was er bisher für selbstverständlich hielt, erkennt als variables Konstrukt und austauschbare Geschichte, was für ihn bisher identitätsstiftend war.

Was fiel Ihnen am Schreiben am leichtesten und womit taten Sie sich schwer?
Das Manuskript hat sich gewissermaßen von selbst geschrieben. Alles, was ich im Sommer 2014 in den Zeitungen las, schien einen Bezug zu meinem Thema zu haben. Es war, als müsste ich nur noch mitprotokollieren und Albert in meine Situation bzw. mich in Alberts Perspektive versetzen.
Anfangs ist es mir jedoch schwergefallen, die zahlreichen nonfiktionalen Bezüge zum aktuellen politischen Geschehen in meinem Text zuzulassen, also nicht nur an den Grenzen von Fiktion und Realität entlangzuschreiben, sondern auch an den Gattungsgrenzen von Roman, Essay und Tatsachenbericht, die sich immer wieder verschoben haben. Irgendwann habe ich es jedoch aufgegeben, gegen die Eigendynamik des Textes anzuschreiben, und mich von der Vorstellung befreit, wie ein Roman zu sein habe. Ab diesem Moment ging alles ganz leicht.
Finden Sie Ihren Text selbst politisch?
Der Text kreist um politische Themen und ist in einem politisch hoch aufgeladenen Kontext entstanden. Allein dadurch ist er bereits politisch, auch wenn es nicht meine Absicht war, einen dezidiert politischen Roman zu schreiben oder gar eine Botschaft zu vermitteln. Dennoch liegt diesem Text natürlich eine persönliche Haltung zugrunde, genauso wie eine persönliche Verunsicherung und meine eigenen Fragen und Zweifel. Deshalb ist es für mich ein ebenso persönlicher wie politischer Text.
Sie haben einen klaren Ton eines Berichterstatters gewählt, der gleichzeitig sehr poetisch ist. Hatten Sie Schwierigkeiten, diesen Ton zu finden, die Rolle des Beobachters einzunehmen?
Auch das hat sich quasi von selbst ergeben – aus der Beschäftigung mit dem Material. Die poetischen Anteile waren mir wichtig, um Alberts Entrückung auch auf sprachlicher Ebene zu gestalten, seine Unfähigkeit, das Geschehen als etwas unzweifelhaft Reales oder gar Alltägliches wahrzunehmen, das sich problemlos in eine Alltagssprache übersetzen ließe. Er braucht den Umweg über die poetische Verfremdung, um seine Eindrücke überhaupt sprachlich fassen zu können, die ihm nicht weniger verfremdet vorkommen.
Wo befindet sich Ihr Lieblingsplatz zum Schreiben? Was lieben Sie an ihm besonders?

Den größten Teil der Arbeit erledige ich am Schreibtisch. Aber abends gehe ich gerne nach draußen. Ich wohne am Rande eines kleinen Parks. Dort setze ich mich auf eine Bank, um zu lesen und den Kopf frei zu bekommen, was allerdings oft nicht funktioniert. Deshalb habe ich immer ein Notizbuch dabei, und alles, was auf dieser Bank noch entsteht – kleine Passagen, Skizzen oder Plotideen, hat sich im Nachhinein oft als besonders wichtig erwiesen. Vermutlich, weil es ohne jede Absicht entstanden ist.

Welche Rolle nimmt das Schreiben in Ihrem Leben ein?
Eine immer wieder neue. Das aktuelle Projekt verlangt schon wieder ganz andere Schreibroutinen und hat seine eigenen Regeln und Arbeitszeiten. Die Sprache ist eine andere, das Tempo, die Themen. Und trotzdem ist es wieder ein Sich-einlassen auf den Text und seine Dynamik. Ich versuche, den Prozess zu genießen, lasse mich überraschen und erlaube mir eine gewisse Planlosigkeit, damit sich alles so fügen kann, als hätte man es wohlkonstruiert.
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