„London hat mir gezeigt, wer ich sein kann und wer ich sein will“ | 08.04.2024
Liebe Frau Engel, worum geht es in Ihrem neuen Roman und wie sind Sie auf die Idee dazu gekommen?
Es geht um zwei Liebesgeschichten auf zwei verschiedenen Zeitebenen, die durch ein Haus im Londoner Stadtteil Camden miteinander verknüpft sind. 1974 verliebt sich die siebzehnjährige Pippa, Tochter aus gutem Hause, in den Sänger einer Punkband. Und in der Gegenwart versucht die frisch getrennte Online-Redakteurin Gilly, ihr Leben auf die Reihe zu bekommen und findet dabei heraus, wer sie ist, wer sie sein will – und wen sie dabei an ihrer Seite haben möchte. Die Idee kam mir beim Starren auf mein Bücherregal. Ich habe am Ende meiner Schulzeit eine Arbeit über die Punkbewegung geschrieben. Die Sekundärliteratur steht immer noch in meinem Bücherregal. Ein Titel davon fiel mir zufällig ins Auge und ich dachte mir: Darüber willst du einen Roman schreiben.
Sie haben bereits sehr erfolgreich mehrere New-Adult-Romane veröffentlicht, nun legen Sie mit „Das Ende von gestern ist der Anfang von morgen“ Ihren ersten „Erwachsenenroman“ vor. Was unterscheidet ihn von Ihren bisherigen Romanen?
Zumindest in der Gegenwart sind die Figuren älter, haben andere Probleme als die Protagonist:innen meiner New-Adult-Romane. Wobei, eigentlich geht es in jedem Alter darum, seinen Platz in der Welt zu finden. Dadurch, dass man nie aufhört, sich zu entwickeln, muss man zumindest ab und zu nachjustieren. Der größte Unterschied ist wahrscheinlich die Vergangenheitsebene. Vielleicht habe ich sie auch deswegen so gern geschrieben, weil es für mich etwas komplett Neues war.
Sie sind in Bayern geboren und aufgewachsen und leben inzwischen in Berlin. Schauplatz von „Das Ende von gestern ist der Anfang von morgen“ ist aber London. Was verbinden Sie mit der britischen Hauptstadt? Woher kennen Sie sich dort so gut aus?
Ich habe vier Jahre dort gelebt. Wahrscheinlich die beste und aufregendste Zeit meines Lebens. London hat mir gezeigt, wer ich sein kann und wer ich sein will. Das ist also etwas, das mich mit Gilly verbindet. Seither ist London mein absoluter Seelenort. So sehr zu Hause habe ich mich weder davor noch danach je wieder gefühlt.
Im Zentrum der Geschichte stehen das viktorianische Mietshaus in der Nummer 19 Tolpuddle Street und seine Bewohner:innen. Eine davon ist Online-Redakteurin Gillian, die dort nach einer gescheiterten Beziehung ein neues Zuhause findet. Stellen Sie uns Gilly kurz vor.
Am Anfang des Buchs ist Gilly ziemlich planlos. Nicht unzufrieden in ihrer Planlosigkeit, aber sie steht kurz vor ihrem dreißigsten Geburtstag und dachte immer, in dem Alter hätte sie das mit dem Leben raus. Mann, Kind, Haus. Jedoch stellt sich dann heraus, dass sie eher gesellschaftlichen und familiären Erwartungen hinterhergerannt ist statt ihren eigenen. Und jetzt muss sie erst einmal herausfinden, was ihre eigenen Erwartungen an ihr Leben sind. Will sie Kinder oder Karriere – beides oder keins von beidem? Und was ist ihr Platz in dieser Welt – als Mensch, als Frau, als Gilly? Ich habe es geliebt, ihre (oft ironische) Reise zu sich selbst zu schreiben, weil ich mich an vielen Stellen sehr gut mit ihr identifizieren kann.
Bei ihrer Recherche zur Geschichte ihres neuen Zuhauses lernt Gilly ihren Nachbarn, den Dokumentarfilmer Owen, kennen. Was zeichnet ihn aus?
Er ist mürrisch und schweigsam und sehr englisch in seiner Reserviertheit und „Awkwardness“. Man muss hinter seine Fassade blicken, um zu sehen, dass deutlich mehr in ihm steckt. Gerade das mag ich besonders gerne. Wenn die Protagonistin und die Leser:innen gleichzeitig Schicht um Schicht abtragen, um den wahren Charakter einer Figur sehen zu können.
Ein weiterer Erzählstrang spielt im Jahr 1974 und dreht sich um die 17-jährige Pippa St George, die die Entstehung des Punks vor 50 Jahren in London hautnah miterlebt, und Oz, den Sänger einer Punkband. Worin unterscheiden sich Pippa und Oz?
In so ungefähr allem! Zumindest am Anfang. Pippa kommt aus einer äußerst konservativen Familie, in der sie als junge Frau nicht viel zu melden hat. Durch ihre Erfahrungen mit der Londoner Punkszene beginnt sie, sich von den Idealen ihrer Familie zu emanzipieren und selbst zu denken. Oz ist diesen Schritt schon gegangen. Er kommt aus einer nordenglischen Arbeiterfamilie und ist seit Jahren auf sich allein gestellt. Trotzdem verlieben sie sich ineinander. Weil sie das Unbekannte reizt, aber weil bei genauem Hinsehen eben doch auch Gemeinsamkeiten da sind.
Woher kommt Ihre Faszination für die Punkkultur? Wie viel Punk steckt in Ihrem Roman?
Ich habe mich schon immer sehr für Musikgeschichte interessiert. Viele der Bands, die ich gut finde, wurden von der Punkbewegung inspiriert. Wenn man diese Einflüsse aufdröselt, landet man automatisch immer wieder im London der Siebziger. Noch während der Schulzeit habe ich angefangen, mich auch mit den gesellschaftlichen Prozessen der Zeit auseinanderzusetzen, weil Punkmusik ohne Kontext nicht denkbar ist. Das Thema hat mich nie wieder losgelassen. Ich würde sagen, in meinem Roman steckt so viel Punk wie nötig, um ein authentisches und spannendes Bild der Zeit zu zeichnen. Aber man muss sich nicht für Punk interessieren, um das Buch zu lesen und zu verstehen. Es ist in erster Linie eine Liebesgeschichte.
Wie lief der Recherche- und Schreibprozess bei „Das Ende von gestern ist der Anfang von morgen“?
Im Vorfeld habe ich sehr viel über die Verhältnisse in England gelesen. Wie kam es zu welchen politischen, gesellschaftlichen, musikalischen und modischen Entwicklungen? Mir war es wichtig, die Hintergründe zu verstehen, um über die Zeit schreiben zu können. Während des Schreibens habe ich dann noch Details recherchiert, die teilweise neue Ideen befeuert haben. Oft hat es sich angefühlt, als würden die Zahnräder meiner Figuren, des Plots und des tatsächlichen Zeitgeschehens ineinandergreifen.
Sie gehen mit Ihrem Roman auch auf Lesereise. Wie wichtig ist es Ihnen, mit Ihrer Leserschaft in Kontakt zu treten?
Ich liebe es. Das Schreiben ist meist eine eher einsame Angelegenheit. Da ist es umso schöner, wenn man merkt, dass das, was man macht, auch über den eigenen Schreibtisch hinaus Bedeutung hat. Die Ideen sind so lange nur für mich sichtbar, dass es manchmal schwer vorstellbar ist, dass sie eines Tages gelesen werden. Das Feedback, das ich dann bei Lesungen bekomme, macht es eigentlich erst so richtig real.