Luca Di Fulvio - Autor
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Autor

Luca Di Fulvio

Luca Di Fulvio, geb. 1957, lebte und arbeitete als freier Schriftsteller in Rom. Bevor er sich dem Schreiben widmete, studierte er Dramaturgie bei Andrea Camilleri an der Accademia Nazionale d'Arte Drammatica Silvio D'Amico. Di Fulvios schriftstellerische Karriere startete mit dem Schreiben von Thrillern, später wandte er sich den großen, emotional tiefen Geschichten zu, in denen seine Protagonist:innen sich gegen die mannigfaltigen Widrigkeiten des Lebens zur Wehr setzen müssen. Er erzählte mit Leidenschaft, Liebe und großem Sinn für Gerechtigkeit und riss mit jedem Roman seine große Fangemeinde aufs Neue mit. Nicht nur seine ersten Romane Der Junge, der Träume schenkte und Das Mädchen, das den Himmel berührte standen monatelang auf den vordersten Plätzen der SPIEGEL-Bestsellerliste. Im Mai 2023 verstarb Luca Di Fulvio nach schwerer Krankheit in Rom.

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Interview

„Rom ist eine Stadt, die an jeder Ecke Geschichten erzählt.“ | 12.10.2020

Roms Straßen, Gebäude und Plätze beschreiben Sie so lebhaft und farbenprächtig, man möchte sich beim Lesen Ihres neuen Romans ES WAR EINMAL IN ITALIEN augenblicklich in den nächsten Zug setzen in diese wunderbare und aufregende Stadt. Was fasziniert Sie besonders an Rom?Wenn man in Rom geboren ist u...

Roms Straßen, Gebäude und Plätze beschreiben Sie so lebhaft und farbenprächtig, man möchte sich beim Lesen Ihres neuen Romans ES WAR EINMAL IN ITALIEN augenblicklich in den nächsten Zug setzen in diese wunderbare und aufregende Stadt. Was fasziniert Sie besonders an Rom?
Wenn man in Rom geboren ist und dort aufwächst, dann lernt man diese Stadt bald mit allen Stärken und Schwächen kennen und lieben. Die Stadt ist eine große Verführerin. Selbst wenn es Tage gibt, an denen man im Hass auf sie einschläft, wacht man am nächsten Morgen auf und ist bereit, sie wieder zu lieben.
Außerdem ist Rom das größte und umfassendste Geschichtsbuch der Welt. Schon die Etrusker haben hier, noch vor den alten Römern, ihre Spuren hinterlassen. Die Geschichte wird lebendig und begegnet einem überall in der Stadt, ob man als Kind auf mehr als 2000 Jahre alten römischen Überresten Fußball spielt, oder als Teenager hinter einer antiken ägyptischen Säule seine erste Liebe küsst, unter der Kolonnade von San Pietro vor der sengenden Sonne Schutz sucht, oder eine Kirche betritt um einen Caravaggio zu bewundern. Rom ist eine Stadt, die an jeder Ecke Geschichten erzählt. Und ich glaube, das ist der Grund, warum alle Römer gerne Geschichten erzählen, weil sie es von klein auf so gelernt haben.
Nella, Pietro und Marta verbindet die Erfahrung, als Waisen aufgewachsen zu sein. Die Sehnsucht nach Liebe und Zugehörigkeit, das ist der rote Faden, der die Figuren verbindet. Was bedeutet es, Teil einer Familie zu sein?
In ES WAR EINMAL IN ITALIEN wollte ich den sehr wichtigen historischen Moment beschreiben, in dem eines der ältesten Völker unserer westlichen Zivilisation zu einer Nation wurde. „Wir sind Italiens Fleisch und Blut“, lautet der Ausruf der Patrioten im Buch. Die Geburt unserer Nation war der Weg zur Wiedervereinigung einer ‚Familie‘, die seit Jahrhunderten zerbrochen war. Meine Figuren folgen dem gleichen Schicksal wie Italien. Sie sind einsame Menschen, Opfer des Schicksals, das ihnen durch ihre Geburt vorbestimmt wurde. Familie bedeutet zuallererst Solidarität, Schutz, aber noch mehr Liebe und Zuneigung und eine Wiege, in der die eigenen Träume und Ambitionen wachsen und Wirklichkeit werden können.
Melo bezeichnet den Zirkus als Familie. Armandina La Bella, die selbst kinderlos ist, wird zur Mutter aller Kinder, die der Zirkus auf seinem Weg durch Italien aufnimmt. Wofür steht der Zirkus Callari noch?
Der Zirkus Callari stellt für mich das wahre Wesen Italiens und der Italiener dar. Farbenfrohe, funkelnde, fröhliche, scheinbar oberflächliche Menschen. Aber unter dieser schillernden farbenfrohen Oberfläche stecken bei genauerem Hinsehen enorme Überraschungen. Nicht nur Talent und Kreativität, sondern auch die Fähigkeit, sich in schwierigen Zeiten zusammenzuschließen. Und vor allem der Wille, niemanden zurückzulassen.
Melo und Nella teilen eine Gabe – sie reden mit Pferden und haben scheinbar eine besondere Verbindung zu den Tieren. Sind Sie selbst ein Pferdefreund?
Ich liebe alle Tiere, weil ich die Natur als Ganzes liebe und mir wünsche, dass jeder sein Möglichstes tut, um sie zu schützen und zu bewahren. Melo und Nella haben die Gabe, mit Pferden zu ‚reden‘, das heißt, mit der Natur zu sprechen. Die Natur ist nicht etwas, das von uns getrennt ist, sondern wir sind alle Teil der Natur. Wenn wir nicht lernen, die Natur zu respektieren, ist es so, als würden wir uns selbst nicht respektieren.
Mit dem Principe Stefano Chiodetti diskutiert Pietro immer wieder über die Kunst der Fotografie – darüber, was sie gegenüber der Malerei auszeichne und ob der Sinn der Kunst im Allgemeinen darin bestehe Schönheit abzubilden. Der geschenkte Fotoapparat wird zur Geste des Großmuts des Principe, der ein elitäres Kunstverständnis vertritt, denn ist die Schönheit nicht den Reichen vorbehalten?
Mein Großvater Rinaldo war ein wohlhabender Chemiker mit einer großen Leidenschaft für die Kunst. Er war selbst Maler. Wenn er morgens mit seinem Hund in den Reisfeldern rund um Novara spazieren ging, besuchte er die Bauern. In seiner Tasche hatte er dann immer Zeichenpapier, Stifte, Pinsel und Farben bei sich. Die Bauern kannten ihn und boten ihm einen Stuhl und eine Tasse Milch an. Er öffnete dann seine große Tasche und rief die Kinder zu sich, die ebenfalls wie ihre Eltern dazu bestimmt waren, später als Bauern ihr Leben zu fristen. Er gab ihnen ein Blatt Papier und einen Stift und lud sie zum Zeichnen ein. Wenn er einem Kind mit besonderem Talent begegnete, nahm er sich diesem an, ließ es Zeichnen, Malerei und Skulptur studieren. Auf diese Weise schuf er eine Generation von Künstlern, die in der Lage waren, mit ihrem Talent ihre Familien zu ernähren. Dies ist die Lehre meines Großvaters Rinaldo: Die Fähigkeit, Schönheit zu sehen, ist nicht nur den Wohlhabenden vorbehalten, aber sicherlich müssen sozial benachteiligte Menschen darin unterstützt werden, sie zu entdecken. Das ist unsere Aufgabe, wenn wir eine ‚Familie‘ sind.
Marta gegenüber spricht Pietro vom „Wahrheitsapparat“ – und die Wahrheit ist es, die er mit seinen Fotos zeigen will. Glauben Sie daran, dass man mit der Kunst die Welt verändern kann?
Victor Hugo, den ich in meinem Roman zitiere, sagte im Vorwort von Les Miserables „solange auf der Erde Unwissenheit und Elend bestehen, dürfen Bücher wie dieses nicht vergeblich und unnütz sein“. Jeder kann die Welt verändern mit den Instrumenten, die ihm zur Verfügung stehen. Warum es also nicht versuchen?
Das Komitee der Jugend zur Befreiung Roms, die jungen Adeligen vom Café Perilli, die Lupi und auch Albanese mit seiner Bande, sie alle kämpfen für dieselbe Sache – ein vereintes Italien. Und doch können sie sich nicht für einen gemeinsamen Weg im Kampf einigen. Inwieweit spielt der Generationenkonflikt eine Rolle?
Der Generationenkonflikt ist ein wichtiges Element in einer Gesellschaft. Es beinhaltet im Grunde genommen denselben Kampf, der in jedem einzelnen Menschen stattfindet und er zeigt sich darin, dass man als Junge und als alter Mann kaum über dieselbe Vision von der Welt verfügt. Das Generationsproblem ist nur dann ein solches, wenn eine Seite die Oberhand über die andere gewinnt. Die Wahrheit liegt immer in der Fähigkeit aller Beteiligten, die Welt auch mit den Augen der anderen zu sehen. Diese Perspektivenvielfalt bringt auf der einen Seite Stärke und Innovation, auf der anderen Seite Erfahrung und Wissen mit sich. Wie das Sprichwort besagt, ist jeder einzelne Finger einer Hand nicht sehr nützlich. Aber alle fünf zusammen können außergewöhnliche Dinge vollbringen.
Was erzählt uns Ihr Roman ES WAR EINMAL IN ITALIEN über die Gegenwart?
Ich bin überzeugt, dass das Erzählen von historischen Geschichten immer auch mit der Gegenwart selbst zusammenhängt. Dies ist der Grund, weshalb die Einheit Italiens für mich in Zusammenhang mit der Einheit Europas steht, einer Gemeinschaft, in der wir unsere Identitäten bewahren und uns gleichzeitig als Brüder fühlen können.
Dasselbe gilt meiner Ansicht nach für die Zeit im Rom des 19. Jahrhunderts, die ich in ES WAR EINMAL IN ITALIEN beschreibe. Wenn eine Gesellschaft nicht in der Lage ist, den Schwächsten zu helfen, dann ist sie keine ‚Familie‘. Dann ist sie keine Gesellschaft, die fähig ist, dieses große und sehr edle Gefühl zu erleben, auf das die alten Römer so stolz waren und das sie ‚Pietas‘ nannten.

Interview

Luca Di Fulvio erzählt im Interview über seinen neuen Roman "Als das Leben unsere Träume fand" | 22.09.2018

Ihr neues Buch "Als das Leben unsere Träume fand" ist ein bildgewaltiges Epos. Es ist die Geschichte einer Reise von drei jungen Menschen auf der Suche nach einer besseren Welt im Buenos Aires der 1910er Jahren. Was hat Sie zu dieser Geschichte inspiriert?In meiner Vorstellung von einem historischen...

Ihr neues Buch "Als das Leben unsere Träume fand" ist ein bildgewaltiges Epos. Es ist die Geschichte einer Reise von drei jungen Menschen auf der Suche nach einer besseren Welt im Buenos Aires der 1910er Jahren. Was hat Sie zu dieser Geschichte inspiriert?
In meiner Vorstellung von einem historischen Roman oder einer epischen Geschichte, die in der Vergangenheit spielt, ist der Bezug zur zeitgenössischen Realität von großer Relevanz. Für mich macht es keinen Sinn, Geschichten zu erzählen, die nichts mit der modernen Welt zu tun haben. Deshalb sind wesentliche Themen dieses zu Beginn des 20. Jahrhunderts spielenden Romans zwei, die nach wie vor Aktualität besitzen: Es geht um Migration (nur die Hautfarbe der Einwanderer hat sich verändert) und um die Ausbeutung von Frauen für die Prostitution. Heute wie damals werden junge Frauen und Mädchen aus Afrika, aber auch aus osteuropäischen Ländern mit Versprechungen nach Europa gelockt, die nie gehalten werden, um sie schließlich zu Sexsklaven zu machen. Und ihre Kunden geben heute wie damals vor, nicht zu wissen, wie viel Leid und Gewalt die Frauen in ihrem Leben erfahren.
Warum fiel die Wahl ausgerechnet auf Buenos Aires als Haupthandlungsort?
Ich bin Italiener. Die Argentinier sagen, dass es unter ihnen keinen gibt, in dessen Adern nicht italienisches Blut fließen würde. Im Jahr 1913, in dem meine Geschichte spielt, lebten zwei Millionen Menschen in Buenos Aires. Die Hälfte von ihnen waren Italiener. Auch Sie als Deutsche haben unsere Emigration in Ihr Land erlebt. Aber in Buenos Aires und auch in New York, wo mein Roman "Der Junge, der träumte schenkte" spielt, war es wirklich massiv. Für uns Italiener ist das Thema Emigration ein selbstverständliches. Sogar für diejenigen von uns, die nicht selbst ausgewandert sind, scheint es Bestandteil ihrer DNA zu sein.
Werden Sie von realen Ereignissen inspiriert?
In meinen Romanen gibt es immer einen historischen Hintergrund, den ich als Ausgangspunkt wähle. Nach und nach, weil ich ja Geschichten erzähle und keine Sachbücher schreibe, gewinnt das Fiktive die Oberhand. Bei diesem Buch gibt es ein historisch verbürgtes Vorkommnis, das mich zum Schreiben inspiriert hat: die verabscheuungswürdigen Aktivitäten der Zwi Migdal, eine jüdische Zuhälterorganisation, deren Mitglieder Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts osteuropäische Jüdinnen nach Südamerika lockten, um sie dort als Prostituierte arbeiten zu lassen. Sie übte ihre Machenschaften fast 80 Jahre lang aus, die vor aller Augen florierten.
Wie entwickeln Sie Ihre Figuren? Gibt es reale Vorbilder?
Die Charaktere entstehen in meinem Innern, reifen heran und entwickeln dann ihr eigenes Leben. Meine Aufgabe ist es, auf sie zu hören. Und ich sehe es als meine Pflicht an, jedem Charakter zu erlauben, so originell und unabhängig wie möglich zu sein. Und der einzige Weg, das zu schaffen, ist, mich auf ein anderes Leben als mein eigenes einzulassen. Das macht im Übrigen sehr viel Spaß, weil ich auf diese Weise viele Leben leben kann. Aber letztlich schreibe ich über Dinge, die bereits in mir angelegt sind.
Gibt es einen Grund, warum Sie sich auch im neuen Buch wieder drei so junge Helden ausgesucht haben?
Bisher waren die Protagonisten meiner Romane junge Menschen, die ihr ganzes Leben noch vor sich hatten. In diesem Roman gilt das nur für Rachel, das jüdische Mädchen. Die anderen beiden Hauptfiguren, Rosetta und Rocco, sind junge Erwachsene, die bereits auf eine leidvolle Vergangenheit zurückblicken. Und nicht nur mit dieser Vergangenheit müssen sie sich auseinandersetzen.
Welche der Hauptfiguren lag Ihnen am meisten am Herzen?
Jede von ihnen liegt mir am Herzen. Wie auch jede Nebenfigur im Buch. Sogar die Bösen. Wenn sie mir nicht am Herzen liegen würden, könnte ich sie nicht lebendig werden lassen. Und ein Roman ist nur gut, wenn die Charaktere lebendig sind. Aber ich gebe zu, dass ich mich Rachel in besonderer Weise verbunden fühle. Ich empfinde Zärtlichkeit für sie, fühle mit ihr, und die enorme Ungerechtigkeit, unter der sie zu leiden hat, bewegt mich; ich bewundere ihre Sensibilität in der Wahrnehmung all dessen, was um sie herum vor sich geht, ihre Courage und ihre Intelligenz. Und nicht zuletzt die Reinheit ihres Herzens.
Waren Sie sich über das Ende der Geschichte auf Anhieb im Klaren?
Mein Verlag und insbesondere meine Lektorin Iris Gehrmann wissen, wieviel Herzblut in dieser Geschichte steckt. Oft weiß ein Autor, wie eine Geschichte endet, aber er denkt mit dem Verstand. Und es gibt keine guten Geschichten, die allein vom Verstand diktiert werden. Daher wird den Entscheidungen des Verstands oft vom Bauchgefühl, den Emotionen also, widersprochen. Haben Sie mal die Vorlage zu "Der Idiot" von Dostojewski oder das Drehbuch von Fellinis Film 8½ gelesen, nur um zwei Beispiele zu nennen? Sie würden weder den Roman noch den Film wiedererkennen. Doch auch wenn die Geschichten am Ende jeweils ganz andere sind, ist es doch dieselbe emotionale Kraft, die diese Stoffe zum Leben erweckt hat.
Ihre Romane haben immer einen historischen Hintergrund, spielen in Zeiten großer gesellschaftlicher Umbrüche. Haben Sie sich schon immer für Geschichte interessiert?
Ich muss lachen, wenn ich darüber nachdenke. In der Schule habe ich Geschichte gehasst. Vor allem die alten Römer, auf die sich ein wesentlicher Teil des Geschichtsunterrichts konzentrierte – umso mehr, da ich ja in Rom zur Schule ging. Vor kurzen bin zu den Fori Imperiali (den Römischen Kaiserforen) zurückgekehrt. Jetzt sind die Fori von einem großen Zaun umgeben, aber als ich jung war, haben wir dort Fußball oder Verstecken gespielt. Diese beeindruckenden Säulen, Villen, Triumphbögen waren Orte, an denen wir unsere ersten Küsse tauschten. Nicht mehr. Damals hatte ich keinen Blick für die Geschichte, die sich dort abgespielt hatte. Dann, eines Tages, ich war längst erwachsen, verliebte ich mich in die Historie, die diese Kulisse ausmacht. Weil ich sie plötzlich verstanden hatte. Die Geschichte erzählt nicht von toten Sachen, vielmehr zeigte sie mir den Weg und unsere ständigen Fehler und Träume. Kurz gesagt, die Geschichte zeigte mir die Seele der Menschen.
Wie viel Recherche mussten Sie betreiben, um den historischen Hintergrund richtig darstellen zu können?
Recherchen sind unterschiedlich aufwendig. Manche Geschichten und Vorkommnisse werden unter Verschluss gehalten von Gemeinschaften, die sich ihrer Vergangenheit schämen. Andere glänzen für alle sichtbar im Sonnenlicht. Für "Der Junge, der Träume schenkte" habe ich vergleichsweise wenig Zeit gebraucht. Die Amerikaner blicken nicht wie wir auf eine jahrtausendalte Geschichte zurück und führen gut strukturierte Archive. Bei "Das Mädchen, das den Himmel berührte" waren das Hauptproblem nicht die Details zur Entstehung des Ghettos, sondern die Örtlichkeitsnamen, insbesondere die der Straßen. Beim "Kind, das nachts die Sonne fand" war am kompliziertesten, die Elemente des täglichen Lebens zu finden, denn die Geschichtsbücher sprechen lieber von den Generälen als von den einfachen Soldaten. Als wären die einfachen Menschen eine abstrakte Masse, die in der Geschichte nur eine Nebenrolle spielten.
Wie sahen Ihre Recherchen genau aus?
Was Buenos Aires angeht, so bestand die größte Schwierigkeit darin, das Netz jüdischer Prostitution zu durchdringen (eine Organisation, die sich innerhalb ihrer eigenen Gemeinschaft kriminell verhält: Jüdische Männer zerstören das Leben junger jüdischer Frauen). Und dann habe ich lange gebraucht, das Leben meiner Landsleute zu verstehen, die vielfach ein trostloses Dasein fristeten, wenn man von den Genuesen absieht, die zumeist Kaufleute waren. Sagen wir so: Sechs Monate Recherche sind das Minimum.
Ein zentrales Motiv in Ihren Büchern ist das Streben nach Glück und das Verwirklichen seiner Träume. Welchen großen Traum haben Sie sich zuletzt erfüllt?
Ich habe das große Glück, ein Mensch aus den Bergen zu sein. Ich weiß, dass den Gipfel eines Berges erklommen zu haben, niemals das Ziel ist. Denn danach geht es an den Abstieg. Und dann zum nächsten Gipfel. Und dann geht`s wieder runter. Und so ist es auch mit meinen Träumen. Ich habe immer wieder neue Träume. Und mit sechzig zum ersten Mal zu heiraten finde ich als verwirklichten Traum nicht schlecht. Denn Elisa zu heiraten, ist die Erfüllung eines meiner Träume.
In Ihrem aktuellen Buch wird deutlich wie wenig Schutz und Rechte die Frauen Anfang des 20. Jahrhunderts genossen haben. Warum ist die Rolle der Frau ein großes Thema in diesem Buch?
Ich würde sagen, dass das Thema Frauen in meinen Büchern immer sehr wichtig ist. Weil ich der Meinung bin, dass es die größte und meist verbreitete Ungerechtigkeit innerhalb der Geschichte ist. Und als Mann schäme ich mich dafür. In meinen Büchern gibt es oft Prostituierte (was einige Leser schockiert). Aber ich denke, ich vermag darzustellen, dass selbst "Prostituierte" niemals "Huren" sind. Das gilt in diesem Buch mehr denn je. Ich habe zwei ganz unterschiedliche Frauenfiguren in den Mittelpunkt gestellt, eine Frau aus Sizilien und ein jüdisches Mädchen aus Osteuropa, und dabei versucht zu zeigen, wie die Gesellschaft bei ihnen immer wieder versucht hat, ihre Flügel zu stutzen. Und wie Frauen trotzdem fliegen können. Oft in Höhen, die Männer kaum erreichen können.
Ferne Länder und neue Welten spielen eine große Rolle in Ihren Büchern. Reisen Sie gerne und viel?
Inzwischen bin ich oft geschäftlich unterwegs. Aber es spielt keine große Rolle für mich. Ich weiß, das hört sich für manche nach Blasphemie an. Aber ich bin am liebsten zu Hause in Rom. Oder in meinen Bergen. Aber ich verreise sehr gerne in Gedanken. Mit meinen Geschichten.
In welchem Land würden Sie gerne neu anfangen?
Darauf habe ich zwei Antworten. Die eigentlich nur eine sind: In einem anderen Italien. In einem anderen Europa.

Interview

Interview | 12.06.2013

Luca Di Fulvio schreibt in seinem neuen Roman »Das Mädchen, das den Himmel berührte« über kühne Lebensträume und über eine Liebe, die sich allen Grenzen widersetzt. Im Interview spricht der Autor über seine Bestimmung im Leben, das Verhältnis zu seinen Figuren und welches Ereignis ihn zu der Geschic...

Luca Di Fulvio schreibt in seinem neuen Roman »Das Mädchen, das den Himmel berührte« über kühne Lebensträume und über eine Liebe, die sich allen Grenzen widersetzt. Im Interview spricht der Autor über seine Bestimmung im Leben, das Verhältnis zu seinen Figuren und welches Ereignis ihn zu der Geschichte von Giuditta inspiriert hat.
Wenn Sie die Möglichkeit hätten, einen Tag mit einer Ihrer Romanfiguren zu verbringen, wer wäre das?
Ich würde mich bemühen, nicht Giuditta zu wählen, denn sie hat schon einen festen Platz in meinem Herzen. Und ich würde nicht Benedetta aussuchen, weil sie dieser Typ „Frau mit dunklem Geheimnis“ ist, in den ich mich verliebe. Meine Wahl fiele ebenfalls nicht auf Isacco, weil er von morgens bis abends nur über medizinische Dinge redet. Also würde ich mich schlussendlich für Mercurio entscheiden und mich von seiner Gabe anstecken lassen, dem Leben offen und unbefangen gegenüberzutreten.
Und was würden sie beide unternehmen?
Wenn ich an meine Zeit als (Theater-)Schauspieler zurückdenke, würden wir wohl die Zeit damit verbringen, uns zu verkleiden und Spaß haben. Vielleicht würde er mir ein paar seiner Tricks beibringen. Denn was ist ein Schriftsteller im Grunde schon anderes als ein guter Illusionist, der für den Leser etwas zum Leben erweckt, was in Wirklichkeit nicht existiert?
In »Das Mädchen, das den Himmel berührte« erwähnen Sie ein Ereignis aus Ihrer Vergangenheit, das Sie zu der Geschichte von Giuditta inspiriert hat. Welches Ereignis ist das?
Das Haus meiner Familie in Venedig liegt genau gegenüber von dem Platz des Ghetto Novo. Es gab an einer Seite einen winzigen Fluss, der die Häuser der Christen von denen des Ghettos trennte. Er war so winzig, dass ein Jude und ein Christ, jeweils aus dem gegenüberliegenden Fenster gebeugt und den Arm ausgestreckt, sich an den Fingerspitzen hätten berühren können.
Ich war 13 Jahre alt und da fiel mir auf der anderen Seite ein wunderschönes Mädchen auf. Viele Nächte habe ich davon geträumt, dass sich unsere Fingerspitzen heimlich berührt hätten. Ich dachte mir, wäre ich zur Zeit des jüdischen Ghettos geboren, wäre ich zum Judentum konvertiert, um diesem Mädchen nahe zu sein. Diesen Traum mit all seiner jugendlichen Innigkeit und Leidenschaft habe ich immer in meinem Herzen bewahrt. Nach all den Jahren habe ich mir nun die Möglichkeit geschenkt, diesen Traum durch Mercurio aufleben zu lassen – die Liebe zu jenem Mädchen, dessen Namen ich noch nicht einmal kenne.
Waren Sie sich über das Ende der Geschichte auf Anhieb im Klaren?
Nein, absolut nicht. Ich wusste natürlich, dass Mercurio und Giuditta irgendwann als Liebespaar zusammenkommen würden. Das war unausweichlich. Aber mir war nicht klar, wie. Zunächst musste eine Lösung für die Schwierigkeit der unterschiedlichen Konfessionen gefunden werden. Mercurio hätte nicht konvertieren können, denn dann wäre er der Inquisition zum Opfer gefallen. Und ich wollte nicht, dass Giuditta dem Judentum abschwört, weil es moralisch gesehen eine Niederlage bedeutet hätte. Also habe ich überlegt, an welchem Ort die beiden ohne Probleme hätten leben können. Da kam mir das Türkische Reich in den Sinn – so absurd es heutzutage angesichts der Intoleranz der islamischen Welt klingen mag. Zu damaliger Zeit war es eins der offensten Länder. Ich stellte mir vor, dass man die Beiden gefragt hätte: „Die Mutter Jüdin, der Vater Christ … und was sind eure Kinder?“ Ihre Antwort hätte gelautet: „Frei.“
Werden Sie oft von realen Ereignissen inspiriert?
Durchaus, wenngleich es mir bei diesen Fakten vor allem darum geht, dass die Begebenheiten, die ich in meinen Romanen schildere, einen Bezug zur aktuellen Realität haben. Ein Roman, der in einer Vergangenheit spielt, die keine Relevanz zur Gegenwart hat, erscheint mir wenig sinnvoll.
Ein interessanter Punkt in Ihrem Roman ist das Verhältnis zwischen Gut und Böse, Liebe und Hass. Wie entwickeln sich Ihre Figuren innerhalb der Geschichte?
Auch wenn es banal klingt, aber ich bemühe mich, die Welt nicht schwarzweiß zu sehen. Die Protagonisten eines Romans müssen natürlich nach gewissen Regeln funktionieren, um die Geschichte voranzutreiben. Ich versuche ihnen beim Schreiben die Möglichkeit zu lassen, sich zu befreien oder zugrunde zugehen, unnachgiebig zu sein oder zu verzeihen. Ich glaube, wenn ein Autor dazu bereit ist, verhilft dies seinen Figuren zu größtmöglicher Lebendigkeit.
Ihre Romane haben immer einen historischen Hintergrund oder einen Rahmenkonflikt, der sich aus diesem ergibt. Haben Sie sich schon immer für Geschichte interessiert?
Ja, schon immer. Aber nicht unbedingt im akademischen Sinn. Ich bin zwischen Rom und Venedig aufgewachsen. In diesen beiden Städten gibt es so viel Geschichte, dass man ständig darüber stolpert. Ich habe als Kind auf dem Forum Romanum Fußball gespielt und hinter Marmorsäulen die ersten verstohlenen Küsse ausgetauscht.
Als ich zehn Jahre alt war, habe ich mir gewünscht, eine Zeitmaschine würde Julius Caesar zu uns nach Hause bringen. Ich würde ihm beibringen, wie man sich mit dem Gillette-Rasierer meines Vaters rasiert oder wie man Fahrrad fährt. Und er hätte mich sehr bewundert, weil ich es so gut konnte. Auch wenn das ganz schön größenwahnsinnig klingt – ein kleiner Junge, der glaubt, Julius Caesar etwas beibringen zu können! –, schäme ich mich doch nicht es zu erzählen, denn es zeigt, dass Geschichte für mich immer gegenwärtig und selbstverständlich war, ohne dass sie mich erschreckt hätte.
Wie viel Recherche mussten Sie betreiben, um den historischen Hintergrund richtig darstellen zu können?
Für »Das Mädchen, das den Himmel berührte« habe ich wenig recherchieren müssen. Ich kenne die venezianischen Gerüche, die Farbe des Himmels, die Anekdoten, die Schauplätze. Auch wenn die Zeit, die ich im Roman beschreibe, natürlich eine andere war, ist Venedig ein Ort, an dem ich gelebt, gespielt und mich verliebt habe. Ich brauchte also vor allem Informationen über bestimmte historische Details, nicht aber über die Substanz als solche.
Wie sahen Ihre Recherchen genau aus?
Wie eine Bergwanderung mit meinen Hunden. Ich suche mir vorher eine Route aus und weiß, dass ich mich der Beschilderung folgend, nicht wirklich verlaufen kann. Aber was zählt, ist nicht der Weg selbst, sondern das Drumherum, all das Unvorhersehbare. Plötzlich siehst du einen Hirsch, der den Wald durchstreift, einen seltenen Pilz, einen umgestürzten Baum, hörst das Krächzen eines Adlers vom Gipfel widerhallen. Oder du siehst einfach einen Felsen, der in genau diesem Moment von einem Sonnenstrahl erleuchtet wird. Also, kurz gesagt, wenn die Recherche nicht auch kreative Seiten hat, schlafe ich ein.
Ein zentrales Motiv in Ihren Büchern ist das Streben nach Glück, indem man sich seine Lebensträume erfüllt. Wovon träumen Sie?
Ich bin ein bulimischer Träumer. Ein einziger Traum reicht mir nicht. Meiner Meinung nach lehren Träume uns eine gewisse Leichtigkeit. Und diese Leichtigkeit ist ein weiterer Traum von mir. Das Leben, der Weg, die ständige Veränderung, das sind meine persönlichen Träume.
Einer der Hauptcharaktere, Mercurio, ist ständig auf der Suche nach einer Bestimmung im Leben. Welches ist Ihre „Bestimmung“?
In meiner Jugend haben mich die Bücher von Carlos Castaneda fasziniert, in denen er von seiner Lehrzeit mit Don Juan erzählt. Der weise alte Zauberer sagt, es gibt kein Ziel. Niemals. Aber es gibt immer einen Weg. Also, ich denke, meine „Bestimmung“ ist es, bis zum letzten Tag meines Lebens meinen Weg fortzusetzen, ohne dabei je die Ohren oder die Augen zu verschließen.
Sie stellen das Durchhaltevermögen einer Person als Notwendigkeit dar, um sich seine Träume zu erfüllen – woher weiß ich, dass ich auf dem richtigen Weg bin?
Ich komme noch einmal auf Don Juan zurück, weil er auf den Punkt bringt, was ich denke: Der einzig richtige Weg ist der „Weg des Herzens“. Die anderen Wege ohne Herz, sind jedoch nicht falsch, sie haben nur einfach keinen Sinn. Wenn du also das Gefühl hast, du bist auch mit dem Herzen bei der Sache, verfolge diesen Weg weiter. Aber welcher das ist, weiß eben niemand außer dir selbst.
Was können wir als nächstes von Ihnen erwarten?
Ich bin völlig inspiriert von der Epoche des Humanismus, also der Phase, in der das Mittelalter von der Renaissance abgelöst wird. Erst war Gott das Zentrum des Universums, nun ist es der Mensch. Eine fundamentale Wandlung. Mich erinnert das auch an die traumatische Veränderung, die der Körper beim Übergang von der Kindheit zur Jugend erfährt. Vielleicht werde ich eine solche Geschichte erzählen, die der Entwicklung eines Kindes, seine gewaltige Veränderung.

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