Markus Thiele im Interview zu seinem Roman "Zeit der Schuldigen" | 02.11.2023
Lieber Herr Thiele, Ihr Roman basiert auf dem realen Mord an Frederike von Möhlmann, dessen rechtliche Konsequenzen die Justiz bis heute beschäftigen. Was ist das Besondere an diesem Fall?
Mein Doktorvater sagte immer, der Rechtsstaat sei die Geißel des Rechtsstaats und meinte damit, dass das Verbrechen der Strafverfolgung immer zwei Schritte voraus sei. Ermittler:innen haben sich an Recht und Gesetz zu halten, Straftäter:innen tun das nicht. Und wie sehr sich der Rechtsstaat selbst im Weg stehen kann, zeigt der Fall Möhlmann mit einer Dramatik, die in der jüngeren deutschen Rechtsgeschichte einzigartig ist: Ein Mörder, dessen Tat erwiesen ist, bleibt wegen eines (jahrtausendealten) Verfassungsgrundsatzes, wonach niemand für dieselbe Tat zweimal verfolgt bzw. vor Gericht gestellt werden darf, auf freiem Fuß. Straf- und verfassungsrechtlich ist das erklärbar, mit dem Gerechtigkeitsempfinden aber kaum zu vereinbaren.
Eine zentrale Figur in Ihrem Roman ist die junge Polizistin Anne Paulsen. Sie will Gerechtigkeit herstellen und begeht dafür ein Unrecht. Ist dieses Dilemma mit rechtlichen Mitteln zu lösen?
Durchaus, und der Gesetzgeber hat das auch getan bzw. versucht. Er hat im Dezember 2021 eine neue Vorschrift eingeführt: § 362 Nr. 5 Strafprozessordnung. Danach dürfen Beschuldigte bei einem Mord und bei Vorliegen neuer Beweise, die sie höchstwahrscheinlich überführen, ein weiteres Mal angeklagt und verurteilt werden — selbst,wenn sie zuvor, als die Beweise noch nicht ausreichten, freigesprochen wurden.
Wo liegt dann das Problem?
Das Bundesverfassungsgericht hat im Juli 2022 verfassungsrechtliche Bedenken gegen die Neuregelung geäußert. Der mutmaßliche Mörder— dessen Schuld an Frederikes Tod schon 2012 durch eine DNA-Analyse zweifelsfrei festgestellt wurde — war aufgrund der neuen Wiederaufnahmevorschrift wieder in Untersuchungshaft gekommen. Gegen den Haftbefehl hat er Beschwerde eingelegt und einen Eilantrag in Karlsruhe gestellt. Aufgrund des Eilantrags hat das Bundesverfassungsgericht den Haftbefehl außer Vollzug gesetzt, der mutmaßliche Täter ist seither auf freiem Fuß. Über seine parallele Verfassungsbeschwerde muss der zweite Senat noch entscheiden — Ergebnis völlig offen.
Wie würden Sie Ihre Protagonistin Anne Paulsen beschreiben?
Anne ist mir über die Zeit hinweg ans Herz gewachsen. Sie ist klug, attraktiv, selbstbewusst, durchsetzungsstark. Und sie ist — das finde ich für die Geschichte mit am wichtigsten — gewissenhaft und eine unbedingte Kämpferin für die Gerechtigkeit. Das macht ihr Leben nicht immer leicht, da sind Konflikte vorprogrammiert. Zu sehen, wie sie da rauskommt, finde ich wahnsinnig interessant. Ein kantiger Mensch, aber ein guter.
Was reizt Sie als Jurist daran, sich in fiktiver Form mit prominenten Justizfällen auseinanderzusetzen?
Vielleicht sind es — etwas pathetisch gesagt — der Wunsch und der Gedanke daran, den Opfern eine Stimme zu geben. Wenn wir von »Justizskandal« reden, sprechen wir in allererster Linie von den Täter:innen, die (aus unserer Sicht) zu Unrecht freigesprochen wurden. Die Opfer bleiben dabei oft blass, sie bleiben in der zweiten Reihe, alles dreht sich um die Täter:innen. Hier setze ich mit meinen Geschichten an. Mich interessieren Täter:innen weniger, mich interessieren das Opfer, seine Angehörigen, Freund:innen, die allesamt großes Leid erfahren haben. Denken Sie nur an Frederikes Vater, der mehr als vierzig Jahre gekämpft hat für die endgültige Aufklärung der Tat. Das ist umso tragischer, als er im Juni 2022 gestorben ist, und das Ende der Geschichte nicht mehr miterleben wird. Und daneben interessiert mich die Belastbarkeit unseres Rechtsstaats, seine Verlässlichkeit auch bei schwierigsten Fragen.
ZEIT DER SCHULDIGEN ist nicht Ihr erster True-Crime-Roman. Wie entscheiden Sie, welches juristische Thema, welchen Fall Sie in einem Roman verarbeiten möchten?
Ich wähle meine Themen zumeist nach dem, wie ich es nenne, »Kopfschüttel-Prinzip« aus. Wenn ich von Verfahren lese, die mich — auch und vor allem als Jurist — kopfschüttelnd, ja sprachlos zurücklassen, ist das ein starkes Indiz für einen infrage kommenden Sachverhalt. Denken Sie an den Schwarzafrikaner Oury Jalloh, der 2005 im Dessauer Polizeigewahrsam angezündet wurde und verbrannte — ein Täter ist bis heute nicht ermittelt. Oder Amadeu Antonio Kiowa, der 1990 in Eberswalde von Neonazis mit Kampfstiefeln zu Tode getrampelt wurde. Die Gerichte verurteilten den Haupttäter nicht wegen Mordes zu lebenslanger Haft, sondern wegen Körperverletzung mit Todesfolge zu lediglich ein paar Jahren Freiheitsentzug. Aus meiner Sicht bis heute eines der größten Fehlurteile unserer Justiz. Und nicht zuletzt — wie im aktuellen Roman ZEIT DER SCHULDIGEN — der Mord an Frederike von Möhlmann.
Wie lief die Recherche?
Das Gute an der heutigen Zeit ist, dass man fast alles, was man an Informationen braucht, im Internet bekommt. Und falls nicht, findet sich zumindest ein Hinweis auf eine Quelle, die man anzapfen kann — eine Tages- oder Wochenzeitschrift etwa. Soweit es die juristische Recherche anbelangt, habe ich Zugriff auf die üblichen Datenbanken mit Urteilen von Gerichten, Beschlüssen, Gesetzeshistorien. Von der Seite des Deutschen Bundestages war ich im positiven Sinne überrascht. Hier findet man jedes Sitzungsprotokoll,jeden Bundestags- oder Bundesratsbeschluss und kann einzelne Gesetzgebungsverfahren mit denunterschiedlichen Meinungen aus den Fraktionen nachlesen. Das war für ZEIT DER SCHULDIGEN, in dem es auch um eine Änderung der Strafprozessordnung geht, ungemein wichtig.
Wie war der Schreibprozess?
Erst schwergängig, dann nach und nach flüssig und holprig zugleich, und zum Ende hin ein Rausch. Wenn die Figuren erst einmal eingeführt sind, wenn ich ihre Macken, Vorlieben, ihr Aussehen und ihre Überzeugungen kenne, ist es einfacher, für eine neue Szene wieder in sie einzutauchen und sie agieren zu lassen. Dann werden Szenen und Figuren tiefgründiger, authentischer. Das alles fließt zum Schluss in eine umfassende Überarbeitung ein. Es gibt Tage, da kommen zehnoder sogar zwanzig Seiten zustande, und dann gibt es Tage, da will es gar nicht laufen. Ich kann das offenbar nur sehr begrenzt beeinflussen.