Jerry Cotton ist nicht nur ein Unterhaltungsroman, sondern als ein solcher ist er ein Kriminalroman, in dem es um Verbrechen, Detektei und Sühne geht, also um Vergehen gegen die gesellschaftliche Vereinbarung.
von Professor Dr. Klaus Göbel
... eines gerechten Miteinandersineinem Staat nach demokratischen Gurndsätzen und die Wiederherstellung des Rechts durch Erfassen und Bestrafen der Täter. So geht es in den Cotton-Romanen (je unterschiedlich akzentuiert) (1) um Unterhaltung durch erzählerische Spannungsdramaturgie und das möglichst pfiffige „Wie“ der letztlich erfolgreichen Ermittlung und Lösung von Kriminalfällen, (2) um Information zu Recht, Rechtspraxis (vorwiegend in der Exekutive), Verbrechen, Täter, Täterprofile sowie Opfer- und Leiderfahrung, und (3) um Nachdenklichkeit und Problemaufrisse zur ständigen Gefährdung demokratischer Gemeinwesen, ihren Vorstellungen von Recht, Gerechtigkeit, Freiheit und Sicherheit und wie man diese verteidigen kann, ohne die demokratischen Grundsätze und damit sich selbst aufzugeben. Dass in den Cotton-Romanen letztlich das Recht siegt, ist nicht unter Trivialverdacht des bonbonigen Happy Ends zu stellen, sondern eine lebensstützende Hoffnung und Kraft aller Demokraten, die als Rechtssicherheit erlebbar werden (...).
Handlungsort, symbolisch für viele Orte und Staaten der Welt, wo sich Demokratie entfalten, bewähren und verteidigen soll, ist New York zwischen Wohlergehen und ständiger Gefährdung. Was nun ist dieses New York in der Romanfiktion? So ist New York von Anfang an in der Cotton-Reihe ein literarischer Ort unter zwei durchgehenden Perspektiven
1. ein Ort, wo sich Demokratie und ‚The way of Life“ der Freien Welt kristallisieren lassen, eine Fiktion ausgelebter Individualität unter dem Schutzschild garantierte Sicherheit, und
2. Ein mystisch brodelnder Ort mit geheimnisvollen, grausamen Unterwelten, wo sich das Verbrechen , das Zerstörerische, das Triebhafte konzentrieren, wo Abgründe lauern und das Tor zur Hölle geöffnet ist, wo das Todbringende in den Straßenfluchten von Manhattan Gestalt gewinnt.
Wie passen beide Perspektiven zusammen? Literarisch ist es klar: Freiheit und Zerstörung, Ordnung und Unordnung, die sich treffen. Das ist das Feld des Kriminalromans. Und darüber hinaus? Wir dürfen nicht vergessen, dass es sich bei Jerry Cotton um eine deutsche Heftromanreihe handelt, die in den fünfziger Jahren ihren Weg zu den Lesern begann. Und so ist die Frage leicht zu beantworten: Wieder erlangte Freiheit, Weltoffenheit und Wohlstand gediehen im Angesicht der auf Westeuropa, insbesondere auf die Bundesrepublik gerichteten Atomwaffen des Warschauer Pakts. Wirtschaftswunder und Verderben lagen nahe beieinander. Eine schleichende Angst war immer dabei, wenn Wiederaufbau und Wirtschaftswachstum gefeiert wurden. Es verging wohl keine Woche ohne neue Kunde von Truppenaufmärschen, neuen Kurz- und Mittelstreckenwaffen der Sowjets. Mehr noch, man wusste um die bittere Wahrheit, dass jede westdeutsche Großstadt im Visier der Ostblock Raketenabschusssysteme stand. Ein einziger Knopfdruck ...
Und die Westberliner hatten in der Blockade-Zeit ja schon einen Vorgeschmack erhalten von all dem, was da täglich kommen konnte. Die Kritiker der rückblickend so genannten Adenauer-Zeit heben vor allem die Oberflächlichkeit und das Profitdenken, Provinzialität und bürgerlichen Muff der fünfziger und sechziger Jahre hervor. Sie haben Unrecht, weil sie den Faktor Angst, die unterschwelligen Existenz und Todesängste der Menschen nicht berücksichtigen und nicht beachten, was es heißt, an der Front zwischen zwei Machtblöcken leben zu müssen. Ohne diesen entscheidenden Aspekt aber gelingen keine verlässlichen Zeitdiagnosen.
Das verborgene Demokratie-Modell der Cotton-Welt
Freiheit und Wohlstand am Rande eines ständig aufbrechenden Abgrunds durchleben zu müssen, erfordert hingegen Mut, Hoffnung und Vertrauen, ein tägliches Besiegen der Angst. Es gelang durch die Schutzgarantien der Westalliierten und später durch die Aufnahme der Bundesrepublik in die europäische freie Welt und die Völkergemeinschaft. Insbesondere das Vertrauen in die amerikanischen Verbündeten unterstützte jenes Herrwerden über die Angst, und GIs in Westberlin und anderswo garantierten sinnfallig die sich ergebende „Sicherheit im Chaos“.
Genau diese Struktur zeigt sich in literarischer Reduzierung, Sinnkonzentration und Figuration in der Jerry-Cotton-Romanstruktur. Freiheit und Gerechtigkeit werden ständig bedroht, sind ihrem Wesen nach in einer ständigen Gefahrdungssituation. Die Gegenkraft muss wehrhaft sein, will sie Erfolg haben. So ist die wehrhafte Demokratie die einzige Möglichkeit, Demokratie überhaupt zu erhalten.
In der anschaulichen, natürlich auch bescheidenen Figuration des Unterhaltungsromans: John D. High als ständiger Mahner dieses Grundgedankens, Phil Decker und Jerry Cotton als Ausführende des Gedankens, der FBI-District New York als das System der wehrhaften Demokratie en miniature, die Stadt New York die Welt im Kleinen. Hinzu kommen Humanität (John D. High) und Freundschaft (Jerry und Phil) als menschliche Grundhaltungen, die Entscheiden und Handeln ständig kontrollieren. In der Fiktion der Romanszenerie lässt sich also ein politischer Kosmos im literarisch erzählerischen Konzept erkennen, das der Unterhaltung dient, weil es übersichtlich, anschaulich, actiongeladen und mit Spannung versehen ist, das aber zugleich politische Erkenntnis birgt von einer kleinen Variante der „besten aller Welten“, also einem Staatsentwurf, der als Thema durch die ganze Geistes- und Literaturgeschichte reicht. Das verborgene Demokratie-Modell der Cotton-Welt, in den fünfziger Jahren entstanden und auf die Anfangszeit der Bundesrepublik projizierbar, ja aus ihr geboren, geht von hier aus seinen keineswegs problemlosen Weg durch die 2500 Romane, von 1954 bis 2004 und darüber hinaus in die Zukunft des neuen Jahrhunderts.
Die für Heftromane und Taschenbücher unvergleichbar hohe Akzeptanz der Jerry-Cotton-Reihe (nachzuweisen in Auflagenhöhe, Reprints und Leserbindung) über 50 Jahre ist nun klar zu beschreiben.
Der komplette Beitrag von Prof. Göbel ist nachzulesen in dem Tagungsband „Die leichte Kunst der schweren Unterhaltung“, herausgegeben von Frank Heinrich Hackel, ISBN 3-9809700-0-0