Monika Held im Interview zu „Sommerkind" | 07.04.2017
Wie ist die Idee zu Ihrem Roman Sommerkind entstanden?
Aus lauter Puzzlesteinen: Ein Schwimmbad, das es nicht mehr gibt. Ein Friseurbesuch. Eine alte Reportage für die Zeitschrift ‚Brigitte‘ und eine noch viel ältere Gedächtnislücke.
Welche Besonderheit trägt der Titel in sich?
Malu ist zwölf, als sie im Sommer in einem Schwimmbad ertrinkt. Sie wird gerettet, reanimiert, ins Leben zurück geholt. Ihren Zustand nennt man Syndrom reaktionsloser Wachheit oder, umgangssprachlich, Wachkoma. Je länger dem Gehirn Sauerstoff entzogen wird, desto größer ist in der Regel der Schaden. Beim Ertrinken in eiskaltem Wasser erleidet der Körper einen Kälteschock und verbraucht weniger Sauerstoff, eine Chance, mit geringeren Schäden davonzukommen. Malu ist ein „Sommerkind“. Sie kehrt aus dem Zustand reaktionsloser Wachheit nicht zurück.
Einer der ersten und zugleich wichtigsten Sätze der Geschichte lautet: „Jetzt geh und schau, was du angerichtet hast.“ In welchem Kontext fällt der Satz und welche Bedeutung hat er für den weiteren Verlauf des Buches?
Der Junge, der sich anschauen soll, was er angerichtet hat, ist Malus Bruder Kolja. Er trägt an dem Unfall keine Schuld, wird aber, da er in der Nähe war, von seinen Eltern verantwortlich gemacht. Es ist nicht der Unfall selbst und der Zustand der Schwester, die sein weiteres Leben bestimmen, sondern dieser vernichtende Satz. Die Frage ist: Gibt es schuldlose Schuld?
Der Unfall seiner jüngeren Schwester ist für den fünfzehnjährigen Kolja der Wendepunkt in seinem Leben. Welche Auswirkungen hat dieser Schicksalsschlag auf ihn und seine Familie?
Er verändert das Leben aller, die daran beteiligt sind. Es ist wie ein Erdbeben. Seine Ausläufer erreichen meine Protagonistin nach 25 Jahren, als eine plötzliche Erinnerung sie mit Bildern konfrontiert, die aus ihrem Leben verschwunden waren. Es gibt einen alten Zeitungsbericht, der beweist, dass sie es war, die das Mädchen aus dem Wasser gezogen hat – ihr Kopf verweigert die vollständige Erinnerung. Sie hat kein Gefühl für die mutige Tat.
Der Roman wird auf zwei verschiedenen Zeitebenen, die aufeinander zulaufen und aus Sicht von zwei Protagonisten, erzählt. Wie sind Sie beim Schreiben vorgegangen?
Als ich beim Schreiben merkte, dass ich zwei Zeitebenen habe, die auch noch aufeinander zulaufen – die Vergangenheit nähert sich der Gegenwart, die Gegenwart nähert sich der Vergangenheit – habe ich mir eine Zeichnung gemacht, um bildlich vor mir zu sehen, wer sich wem nähert und wer was von wem wissen kann.
Sie schreiben über Kinder, die sich im Zustand des „Wachkomas“ befinden bzw. vom „Syndrom reaktionsloser Wachheit“ betroffen sind. Was hat Sie an diesem Thema besonders gereizt?
Nüchtern betrachtet geht es bei Kindern im Wachkoma um eine Schädigung des Gehirns. Es geht um behinderte Menschen. Trotzdem geben sie uns Rätsel. Ein Zustand zwischen Hiersein und Dortsein, Verstehen und Nichtverstehen, Nähe und Ferne, ist schwer zu verstehen.
Das Buchjournal hat einmal über Sie geschrieben: „Monika Held (lässt) ihre Protagonisten sprechen, trifft den Ton, der berührt, ohne je in Pathos oder Kitsch abzugleiten.“ Wie gelingt Ihnen dies?
Ausprobieren. Hinschreiben. Durchstreichen. Neu schreiben. Immer wieder. Bis der Ton stimmt. Arbeit im Steinbruch.
Ihre Beschreibungen der Krankenhaus-Szenen mit den Angehörigen der kindlichen Patienten sind sehr intensiv und berührend. Wie haben Sie sich in die Figuren eingefühlt? Was hat Ihnen dabei geholfen?
Ich habe das Thema „Wachkoma“ vor langer Zeit für die Zeitschrift Brigitte recherchiert. In der Klinik wurde mir großzügig gestattet, mich in der Neuropädiatrie, der Abteilung für Säuglinge und Kinder mit Nerven- und Hirnschäden, mit Eltern und ihren Kindern zu treffen. Ich durfte bei der Pflege und Behandlung zuschauen, Kinder und Eltern zu Therapiesitzungen begleiten. Ich war dort zwei Wochen „zuhause“. Die Aufzeichnungen habe ich aufgehoben.
Ein Kernthema vom Sommerkind ist die Willkür der Erinnerung und das Problem, wie unzuverlässig das eigene Gedächtnis ist, wenn es um die eigene Biografie und Vergangenheit geht. Sie finden dafür die treffende Beschreibung „das Gedächtnis ist keine Bibliothek, man kann dort nicht nach Erinnerungen stöbern wie nach einem verlegten Buch.“ Gibt es auch in Ihrem eigenen Leben Dinge, an die Sie sich nicht erinnern können oder von denen Sie nur Kenntnis haben, indem andere Ihnen davon erzählten?
Den Teil der Geschichte, der mit Erinnern und Vergessen zu tun hat, teile ich mit meiner Protagonistin bzw. sie mit mir. Ich habe sie – stellvertretend für mich – auf die Suche nach der Geschichte des geretteten Mädchens geschickt, die ihr und mir verloren gegangen ist. Sie war dabei erfolgreicher als ich.