Sie haben über fünfhundert Seiten lang Ihre Hauptfigur Hannah Arendt begleitet. Was hat Sie dazu veranlasst?
Ganz einfach die Tatsache, dass man mit Hannah Arendt nicht so schnell fertig wird! Sie hat mich tatsächlich auf Trab gehalten. Ihre beiden Bücher »Ursprünge des Totalitarismus« und »Vita activa« las ich als Studentin, aber erst in Amerika habe ich Arendt für mich wiederentdeckt. Im Midwest, wo ich, wie übrigens Arendt selbst, das amerikanische Campus-Leben kennenlernte, war sie damals in fast aller Munde. Nun hat sie es auch in Europa soweit gebracht. Hannah Arendt ist zur Zitatengeberin der Stunde geworden. Das ist eine zweifelhafte Form der Präsenz, wenn im gefühlten Minutentakt ein Fitzelchen von einem in die Welt hinausgeschleudert wird. Gemessen an dem, was diese Frau wirklich war und was sie der Welt hinterlassen hat, ist dieses Namedropping kurios.
Hannah Arendts Leben, ihr Werk, ihr Temperament, ist Kraftnahrung vom Feinsten. Ich bin ihr selbst, meinem Verleger Dominique Pleimling und ganz besonders meiner Lektorin Ulrike Ostermeyer dankbar, dass das Projekt mit und an diesem großen Leben wachsen konnte.
Und warum ein Roman?
Ich begeistere mich für gelebtes Leben, für Menschen aus Fleisch und Blut, für Charakterköpfe, für Persönlichkeiten mit einem klugen Herzen, und zu denen gehört Hannah Arendt. Sie ist nichts fürs Totsein. Deshalb habe ich sie mit meinen Mitteln ins Leben zurückgeholt.
Ich lasse mich ungern durch Zeit und Raum bremsen, und das war auch hier so. Ich habe meine Hauptfigur mit viel künstlerischer Freiheit aus dem Gerüst ihrer Biografie herausgelöst und ins Hier und Jetzt gestellt, damit sie mit uns, die wir heute leben, spazieren und zu uns reden kann. Auch als alte Frau will sie noch träumen und neue Freundschaften, von mir erfundene Freundschaften schließen. Besonders die fiktiven Figuren stellen eine ganz neue Freiheit für sie dar, und natürlich auch für mich. Nur im Freiraum der Imagination kann ich die große Begegnungs- und Interaktionslust zeigen, die sie für mich verkörpert.
Wie ist der Roman aufgebaut?
Der Roman beginnt und endet im Zug. Das passt zur Schweiz und dazu, wie der Roman entstanden ist. Nicht wenige Seiten habe ich im Zug geschrieben, entworfen oder redigiert. Man sitzt also mit Hannah Arendt im Gotthardtunnel und fährt nach Tegna, einem Dorf hinter Locarno, wo sie ihren Urlaub verbringen will. Sie ist verwitwet und weiß, dass sie selbst im Spätherbst ihres Lebens ist, aber Tessin muss nochmals sein. Mit der Schweiz hatte sie ja sehr viel mehr zu tun, als allgemein bekannt ist, für den Roman habe ich vieles davon aufgearbeitet und mit Musik und anderem Zeitkolorit unterlegt.
Von Tegna aus reist man mit Hannah Arendt durch ihre inneren und äußeren Welten, denn die Form des Romans ist wirklich das ideale Gefährt für ein so bewegtes Leben. Die Lebensreise setzt nach dem großen Bruch 1941 ein, mit der Ankunft von Hannah Arendt und Heinrich Blücher in New York. Sie führt über das zerstörte Deutschland, über Kalifornien, Jerusalem und Rom schließlich nach Basel, wo sich im Todesjahr von Karl Jaspers die beiden Zeitstränge verbinden.
Das Tessin ist der Hauptschauplatz. Meine Hannah Arendt liebt die Maggia-Schlucht, den kleinen Zug von Locarno durchs Centovalli, den sie Bimmel-Bammel nannte, die Vögel, die Eidechsen und überhaupt die Abgeschiedenheit in der Natur.
Was macht Ihre Hannah Arendt aus?
Hannah Arendt war mit der Publikation der fünfteiligen Reportagen-Serie »Eichmann in Jerusalem«, die zwischen Februar und März 1963 erschien – ziemlich abstrus mit Werbung durchschossen –, der englischen Originalausgabe in Buchform und der deutschen Übersetzung 1964 fast schlagartig eine öffentliche Person geworden. Eine Kontroverse gegen sie und ihr Buch, die sie selbst öffentlich »Kampagne« und in privaten Briefen »Mobilisierung des Mobs« nannte. Aus dem grellen Licht einer Öffentlichkeit, die sie teils mit Hass, teils mit Euphorie überschüttete, ohne sich in der von ihr erhofften sachlichen Weise mit ihrem Buch auseinanderzusetzen, kam sie bis zu ihrem Tod nicht mehr heraus. Ich las und tastete mich lange an diese Wende in ihrem Leben heran und erspürte eine Leerstelle.
Die Frau, die jahrelang hart im Wind stand, den Menschen, der kaum je von den persönlichen Folgen dieser Ereignisse gesprochen hat, die Denkerin, die ihrer Linie treu geblieben ist, die ganze Hannah Arendt, die das alles durchgemacht hat, sie wollte ich ins Leben zurückholen.
In »Was wir scheinen« sind wir bei und mit ihr. Sie gewinnt persönliche und private Facetten, die im Schatten der öffentlichen Persona liegen, und wird auch durch die Verbindung von Erlebtem und Gedachtem ein »ganzerer« Mensch, so hoffe ich jedenfalls. Wenn das gelingt, habe ich als Schriftstellerin und Forscherin das Beste erreicht.
Spricht aus diesem Roman eher die Forscherin oder die Künstlerin in Ihnen?
Für mich lässt sich das eine nicht vom anderen trennen. Von Haus aus bin ich Mittelalterforscherin. Ich weiß, dass man ein Stück Vergangenheit nur glaubwürdig reanimieren und auffrischen kann, wenn man recherchiert. Ich bin Literaturwissenschaftlerin und Professorin, Künstlerin und Autorin. Davon profitiert mein erster Roman, wissenschaftliche Recherchen sind ebenso eingeflossen wie meine Erfahrung als Stoffgestalterin, als Hörspiel-, Theater- und Filmregisseurin. Wenn ich eine historische Person reanimiere, spiele ich auf zwei Instrumenten gleichzeitig. Eigentlich wie die Figur aus der Kirche hoch über dem Lago Maggiore, die Hannah Arendt sich im zweitletzten Kapitel anschaut.
Dialoge schreibe ich seit Jahren, für Hörspiele, Dokufiktion, Theaterstücke mit fiktiven und historischen Persönlichkeiten, besonders Frauen, unbekanntere, aber auch bekannte wie Hildegard von Bingen, von der Antike bis zum Zweiten Weltkrieg. Die Form des Romans eignet sich für die Reanimation eines Lebens ausgezeichnet. Ich mag klug gemachte Animationsfilme sowieso lieber als um historische Genauigkeit bemühte Kostümfilme. Sie sind um Welten poetischer.