Worum geht‘s?
Der Roman „Fräulein Schopenhauer und die Magie der Worte“ von Lucca Müller erzählt die Geschichte von Adele Schopenhauer. Als kleines Kind verliert Adele ihren Vater und diese Erfahrung hinterlässt viele Spuren bei ihr. Als Tochter einer sehr ehrgeizigen, aber auch verschlossenen Mutter steht ihr Leben zu Beginn in deren Schatten. Ihr Bruder, der Philosoph Arthur Schopenhauer, verlässt sie und ihre Mutter und die Beziehung zu ihm wird im Laufe des Romans immer schwieriger. Der Roman spielt im 19. Jahrhundert in verschiedenen Städten wie Weimar, Hamburg und Wiesbaden. Adeles Wünsche und Träume stehen lange im Hintergrund und sie muss sie erneut vernachlässigen, wenn ihre Mutter einen Schlaganfall erleidet. Dennoch findet sie ihren Weg und lebt ein Leben, das für die Zeit sehr mutig und ungewöhnlich ist.
Meine Meinung:
Der Roman beginnt in Adeles Kindheit und thematisiert von Anfang an viele schwierige Themen, über die es im 19. Jahrhundert unmöglich war offen zu sprechen. Der Tod des Vaters wird verschwiegen und Adele wird ihre eigene Erfahrung abgesprochen. Sie lernt als kleines Mädchen schon, dass sie als Frau nicht viel zu melden hat und sich besser an gesellschaftlich geschätzten Themen hält. Adeles Mutter traut ihrer Tochter nichts zu, bindet sie sehr an sich und setzt sie regelmäßig unter Druck. Sie wirkt für mich als Leserin aus dem 21. Jahrhundert übergriffig, narzisstisch und insgesamt eher unsympathisch. Der Roman vermag es jedoch, nicht nur Adeles Geschichte zu erzählen, sondern auch immer wieder der Figur der Mutter Tiefe zu verleihen.
Auf den ersten Blick lebt Adeles Mutter das Leben einer perfekt angepassten und gesellschaftlich akzeptierten und geschätzten Frau. Sie ist streng, ist gerne Teil der gehobenen Gesellschaft, legt viel Wert auf ihr Erscheinungsbild und pflegt Kontakte zu den Dichtern und Denkern ihrer Zeit. Faszinierend ist jedoch, dass unter alldem eine Grau steckt, der nichts wichtiger ist als ihre Freiheit. Sie mag vielleicht nicht die sympathischste Figur sein, jedoch ist ihre Geschichte so einzigartig und beeindruckend für ihre Zeit, dass ich von Seite zu Seite mehr mit ihr mitgefiebert habe. Dass eine Frau mit so vielen gesellschaftlichen Konventionen bricht und dennoch einen festen Platz in sozialen Kreisen einnimmt ist mehr als beeindruckend. Mich hat sie mit ihrer liebevollen und respektvollen Reaktion gegenüber Adeles Lebensweg vollkommen für sich gewonnen.
In einer Welt, in der Frauen so früh wie möglich heiraten sollten, es von ihnen erwartet wurde Hausfrau und Mutter zu sein, sie vollkommen von Männern abhängig waren und kaum die Möglichkeit hatten selbst zu entscheiden, wohin ihr Weg gehen soll bricht Adele Schopenhauer mit allen Konventionen, riskiert es zur Außenseiterin zu werden und findet trotz aller Hindernisse ihr Glück. Ich habe lange keinen Roman mehr gelesen, der mir so viel Hoffnung gemacht hat wie Adeles Geschichte. Durch diverse Themen und sprachliches Feingefühl ist der Roman absolut zeitgemäß und greift Konflikte auf, denen wir auch heute noch täglich begegnen.
Der Spannungsbogen in diesem Roman baut sich langsam auf. Dies ist kein Buch zum schnellen Lesen oder Berieseln-lassen. Es ist ein Buch, das zum Denken anregt und mich meine eigenen Denkmuster hinterfragen ließ. Das Ende kam für mich etwas plötzlich. Der gesamte Roman legt sehr viel Wert auf Details und präzise Erzählungen. Es wird eine Welt geschaffen und ich konnte voll und ganz eintauchen. Ich konnte die Kämpfe in Weimar hören, der Zorn des Bruders hat mich geschmerzt, ich habe die Natur am Rhein gerochen und das Gras an meinen Füßen gespürt. Aber das Ende kam und ging zu schnell. Als wäre die Zeit ausgegangen, aber die Geschichte noch nicht abgeschlossen. Als hätte der letzte Satz noch gefehlt und musste schnell nachgeliefert werden. Das ist etwas schade, aber es nimmt nur einen winzigen Teil eines ansonsten großartigen Buches ein.
Lucca Müller schafft es, sprachlich Bilder zu malen. Die Feinheit und Präzision der Sprache hat mich vom ersten Satz an schon in Adeles Welt entführt. Adele und ihre Mutter Johanna haben jeweils eine ganz eigene Stimme und auch ohne die entsprechenden Überschriften wäre klar, wer in welchem Kapitel seine Sicht teilt. Kein Satz in diesem Roman ist langweilig oder überflüssig. Auch noch so kleine Details bringen das Gesamtbild zusammen. Ich konnte den Roman kaum zu Seite legen, denn nicht nur die Handlung, sondern auch die sprachliche Darbietung ist fesselnd und von höchster Qualität.
Fazit:
Ich habe lange kein Buch gelesen, das mich so inspirieret hat und so viel Hoffnung gegeben hat. Auch wenn es im 19. Jahrhundert spielt ist es absolut zeitgemäß und behandelt einige der wichtigsten Themen unserer Zeit. Wir brauchen mehr Frauen wie Adele und Johanna, die mit Konventionen brechen, Grenzen überschreiten und ihren Platz in der Welt einfordern!
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