
Veröffentlicht am 13.12.2019
Bedrückende und berührende Geschichte
Die vielen negativen Meinungen zu dem Buch haben mich erstmal zögern lassen - und auch wenn mir selber "Nach mir die Flut" von Sarah Perry gar nicht gefallen hatte, war ich sehr begeistert von "Die Schlage von Essex"; deshalb wollte ich ihrer neuen Geschichte eine Chance geben.
Die meisten haben moniert, dass sie nach dem Klappentext einen Schauerroman erwartet hätten und die mysteriöse Frau in Schwarz, Melmoth, viel zu sehr an den Rand gedrängt war. Das hab ich nicht so empfunden. Ich war zwar auch eher auf eine gruselige Geschichte eingestellt und die bekommt man eigentlich auch, aber völlig anders als erwartet.
Melmoth durchzieht das ganze Buch mit ihrer Präsenz. Sie taucht immer wieder auf in Manuskripten und Berichten, die Helen Franklin in die Hände fallen. Sie lebt seit vielen Jahren in Prag - ein bescheidenes, kasteiendes Leben, mit dem sie für eine Schuld büßt, die sie nicht mehr loslassen kann.
Das ist auch eins der Grundthemen: Schuld, aber auch die Scham, die mit dem Schuldgefühl einhergeht, genauso wie die Verzweiflung, die aus der Einsamkeit erwächst. Einer Einsamkeit, die von schlechtem Gewissen herrührt, von Dingen, die man niemandem sagen traut, von Entscheidungen, die eigennützig, bösartig oder einfach nur unbedacht waren.
Jeder von uns trägt wohl etwas davon mit sich herum und wir müssen alleine damit fertig werden, was wir tun oder getan haben - aber hier ist Melmoth, die Zeugin. Melmoth, die alles sieht und in ihrer eigenen einsamen Verzweiflung jedem die Hand gibt, um nicht mehr allein zu sein.
Obwohl nicht übermäßig viel passiert fand ich es sehr fesselnd.
Zum einen wegen dem wirklich grandiosen Schreibstil, der mir sehr gut gefällt und der eine ganz besondere, intensive Atmosphäre schafft. Nicht zu detailliert, aber sehr anschaulich und sinnbildlich beschrieben. Auch das Mittel, den Leser zwischendurch direkt anzusprechen, ihn zum hinsehen aufzufordern, fand ich klasse - ich mag es, wenn ich so in die Geschichte mit reingezogen werde und ich hatte das Gefühl, tatsächlich zu sehen, was Sarah Perry mir zeigen wollte.
Zum anderen waren es die Lebensgeschichten der verschiedenen Menschen, die jetzt nicht unbedingt aufregend waren, aber auf konzentrierte Weise eindringlich, teilweise berührend, teilweise verstörend. Menschliche Abgründe auf vielfältige Art, wie es überall auf der Welt geschehen ist und immer noch geschieht, mit dem Tenor, nicht wegzuschauen, sondern wahrzunehmen, um zu helfen.
Interessant fand ich auch die gleichzeitige Angst und Sehnsucht, Melmoth tatsächlich zu begegnen bzw. ihr ins Gesicht zu sehen - zeigt es doch die Furcht, seinen Taten bzw. seinem Gewissen in die Augen zu schauen, andererseits aber auch den Wunsch, Frieden zu schließen und die Schuld anzuerkennen, die man vielleicht auf sich geladen hat.
Es ist schwierig zu sagen, was ich mir aus diesem ungewöhnlichen Buch "mitnehme" und ich bin nicht sicher, alles so verstanden zu haben, wie es die Autorin erkenntlich machen wollte, und vielleicht ist mir deshalb auch das Ende etwas zu bitter ... trotzdem war ich positiv überrascht von dem feinen Gespür, das Sarah Perry an den Tag legt, um ihren Figuren Authentizität einzuhauchen und der Schreibstil an sich ist wirklich ganz was besonderes.
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