2006 war er ein unbekannter Autor, dessen Debüt »Die Therapie« mit einer Erstauflage von 4000 Stück veröffentlicht wurde. Heute, sieben Jahre und acht Bestseller später, ist Sebastian Fitzek der unumstrittene Star des deutschen Psychothrillers. Im Interview zu seinem neuen Blockbuster »Noah« spricht...
2006 war er ein unbekannter Autor, dessen Debüt »Die Therapie« mit einer Erstauflage von 4000 Stück veröffentlicht wurde. Heute, sieben Jahre und acht Bestseller später, ist Sebastian Fitzek der unumstrittene Star des deutschen Psychothrillers. Im Interview zu seinem neuen Blockbuster »Noah« spricht er über Kindheitsträume, Karriere und sein Leben als Autor.
Wie man hört, wollten Sie als Kind Tennisprofi werden und hätten das auch geschafft, wenn die Medien sich nicht so verbissen auf den damals 17jährigen Boris B. aus L. gestürzt hätten, nur weil der gerade Wimbledon gewann, statt dem eigentlichen sportlichen Großereignis dieser Tage, Ihrem 3. Platz beim Schleifchenturnier des SC-Brandenburg mehr Aufmerksamkeit zu schenken. Inwiefern beeinträchtigt diese Erfahrung noch heute Ihr Verhältnis zur Presse?
Ich war schon sehr enttäuscht, wie hier die Prioritäten gesetzt wurden. Vermutlich ist das der Grund, weshalb ich später beim Radio anfing, um die Maßstäbe des Qualitätsjournalismus neu zu definieren. Allerdings wurde mir auch hier nicht erlaubt, über das Schleifchenturnier zu berichten, weswegen diese edle Meisterschaft nur den wenigsten Mitmenschen ein Begriff sein dürfte.
Des Weiteren hört man, dass Sie eine internationale Karriere als Schlagzeuger im wahrsten Sinne des Wortes „verhauen“ haben, weil Sie sich selbst im Weg standen. Wie hat man das zu verstehen, und wie groß ist Ihrer persönlichen Einschätzung nach der daraus entstandene Verlust für die Musikwelt?
Was heißt „verhauen“? Ich war einfach nicht gut genug. Und außerdem ist man als Jugendlicher ja nur aus einem Grund in einer Band: um Mädchen kennenzulernen. Aber selbst das hat nicht funktioniert. Als Schlagzeuger sitzt man in der hintersten Ecke auf der Bühne, versteckt hinter dem Drumset und ist nach dem Auftritt Stunden damit beschäftigt, das Equipment einzupacken, während der Sänger nur das Mikro abschrauben muss und feiern gehen kann. Ich rate daher jedem pubertierenden Teenager: Augen auf bei der Instrumentenwahl!
Es heißt, keine Musik präge uns so sehr wie die, die wir im Alter von 14 Jahren hören. Was war ihr absoluter Lieblingssong der Jahre 1985/86?
Shake the Disease von Depeche Mode und In Between Days von The Cure.
Was der Arzt dem Doktorbuch-Wälzer voraus hat, unterscheidet den Psychothriller-Autor vom gemeinen Schriftsteller: Sie müssen die menschliche Seele in ihrer Gesundheit kennen, um sich die kranke eines Psychopathen literarisch erschließen zu können. Was haben Ihre Eltern nach Ihrem Dafürhalten so richtig an Ihnen gemacht, dass Sie sich so herrlich normal entwickeln konnten?
Sie haben mir immer den Raum und die Unterstützung gegeben, meine Phantasie (und damit meine Kreativität) auszuleben. Obwohl ich aus einem sehr konservativen Elternhaus stamme (ich durfte, bis ich 18 Jahre alt war, nie in eine Diskothek gehen), hörte ich nie Sätze wie „Lern etwas Ordentliches, verplempere deine Zeit nicht mit Musik“ etc.) Und auch als ich mein Tiermedizinstudium nach drei Monaten abbrechen und zum Radio gehen wollte, wurde ich nicht enterbt. Im Gegenteil: Mein Elternhaus war wie ein Flugzeugträger für mich. Von ihm konnte ich ins Abenteuer hinaus fliegen, wohl wissend, dass irgendwo in der rauen See da draußen ein sicherer Hafen auf mich wartet. Mir durfte auf dem Rückweg nur der Sprit nicht ausgehen.
Ursprünglich wollten Sie mal Tierarzt werden, und jeder Tierhalter, der liest, wie Ihr Protagonist Noah mit dem Welpen Toto umgeht, wird heimlich bedauern, dass Sie diesen Beruf nicht noch irgendwie nebenbei ausüben. Was hat Sie damals bewogen, das Studium aufzugeben, und haben Sie ein Haustier, das Ihnen bei Ihrer kreativen Arbeit jaulend oder miauend zur Seite liegt?
Ich hatte zwei Hunde, die sind aber alle eines natürlichen Todes gestorben, nachdem sie uralt wurden. Jetzt habe ich drei Kinder, und sobald die etwas größer sind, hoffe ich wieder genügend Zeit für Haustiere zu haben. Im Moment würden wir die Tiere zu sehr vernachlässigen.
Ich denke übrigens, dass alle Tiere froh sind, dass ich nicht Veterinär geworden bin. Ich habe nämlich zwei linke Hände. Das wurde mir spätestens im Sektionsaal bewusst, als ich mich daran versuchte, bei einem toten Hund die Bauchmuskeln zu präparieren. Ein lebendes Tier will meine Operationskünste ganz sicher nicht erfahren.
Sie sind von Haus aus promovierter Jurist, haben aber nie in diesem Beruf gearbeitet. Glauben Sie, dass das Jurastudium Ihnen trotzdem das für das kreative Schreiben unverzichtbare Rüstzeug mitgegeben hat, jede Wahrheit glaubhaft in eine Unwahrheit verwandeln zu können und umgekehrt?
Als Jurist, ganz besonders als Strafverteidiger, haben sie das Ende der Geschichte meistens im Kopf. Sie wollen ihren Mandanten rauspauken, und jetzt überlegen sie sich eine Strategie, wie das funktioniert. Man könnte auch sagen: Sie denken sich eine Geschichte aus. Diese Geschichte sollte so nah wie möglich an der Wahrheit sein, sonst wird sie nicht geglaubt. Insofern sind hier tatsächlich einige Parallelen zum Autor vorhanden – und nicht wenige Juristen sind ja auch erfolgreiche Schriftsteller.
Noch während Ihres Jurastudiums begannen Sie ein Volontariat beim Radiosender 104.6 RTL, Berlin und wurden später Unterhaltungschef und Chefredakteur beim Berliner Rundfunk. Hat Sie diese Tätigkeit so sehr das Gruseln gelehrt, dass Sie sich das Grauen irgendwie von der Seele schreiben mussten?
Ich denke eher, dass das Leben jeden erwachsenen Menschen das Grauen lehrt, dafür muss man nur einmal die Zeitung aufschlagen. Letztlich aber kann ich nicht leugnen, dass es gerade im Radio eine große Zahl verhaltensauffälliger Kollegen gibt, von denen sich einige auch in meinen Büchern wiederfinden.
Mit Ihrem literarischen Debüt „Die Therapie“ haben Sie 2006 innerhalb von zwei Wochen die Amazon-Verkaufscharts gestürmt und Dan Browns „Sakrileg“ und Hape Kerkelings „Ich bin dann mal weg“ auf die Plätze 2 und 3 verwiesen. Was für ein Gefühl war das für Sie, nachdem Sie zunächst Mühe gehabt hatten, für Ihr Erstlingswerk einen Agenten zu finden?
Ein sehr irreales Gefühl. Ich dachte, das wäre ein Computerfehler. Dachten die bei Amazon in England übrigens auch. Es gibt eine E-Mail von der englischen Amazon-Leitung an die deutsche Zentrale mit dem Betreff: „Who the fuck is Fitzek???“
Wer einen Golfschläger halten kann, meint leicht, die „British Open“ gewinnen zu können, und wer seinen Namen schreiben kann, glaubt oft zwangsläufig, auch Literatur zu Papier bringen zu können. Was ist Ihres Erachtens der größte vermeidbare Fehler von Menschen, die zwar schreiben, aber keinerlei Erfolg haben?
Sich mit dem ersten Entwurf zufrieden zu geben. Der ist in der Regel Mist. Ich kenne keinen erfolgreichen Autor, der seine Werke nicht mehrmals überarbeitet, bevor sie in den Druck gehen.
Werden Sie inzwischen überall sofort erkannt und angesprochen, oder ist Ihnen bei allem Erfolg und Ruhm eine gewisse Anonymität geblieben?
Ich werde nur sehr selten erkannt und das auch meistens nur, wenn ich irgendwo einen Ausweis oder meine EC-Karte vorlegen muss. Umgekehrt würde ich die meisten Autoren, die ich lese, auch nicht unbedingt auf der Straße erkennen. Ich finde diese Form der bekannten Anonymität sehr schön.
Es heißt, dass Sie Lesungen lieben, Lesereisen indes ganz und gar nicht, sodass Sie die gern schon mal wie Klassenfahrten organisieren und sich ein paar Freunde mitnehmen. Wie muss man sich das vorstellen?
Bei jeder Lesung begleitet mich Christian, den viele wegen seiner großen Statur für meinen Bodyguard halten, dabei ist er ein alter Freund, dem es Spaß macht, mit mir durch die Gegend zu reisen. Anfangs war das Luxus. Mittlerweile habe ich so viele Termine am Stück, dass ich es ohne ihn an meiner Seite kaum noch schaffen würde. Zu großen Events begleitet mich meine Frau, dann der Verlag, meine Managerin, meine PR-Agentin – und wenn dann auch noch meine Kinder mitkommen, ist die Klassenfahrt komplett.
Sie sind in Ihrer bisherigen Karriere bereits mit einer Vielzahl von Preisen bedacht worden. Gibt es eine Auszeichnung, von der Sie insgeheim träumen?
Nein.
Können Sie sich theoretisch vorstellen, nach all den großen Erfolgen mit Ihren Psychothrillern irgendwann komplett das Genre zu wechseln?
Ja, aber vermutlich nur unter Pseudonym. Ich will von meinen Lieblings-Thriller-Autoren ja auch keine Komödie lesen.
Auf den ersten Blick kommt es einem so vor, als gebe es kein einziges Thema mehr, das nicht schon literarisch ausgeschlachtet wurde. Erst wenn man sich mal intensiver damit befasst, stellt man fest, dass dem ganz und gar nicht so ist, dass viele Themen immer noch tabuisiert oder aber viel zu selten oder nur ansatzweise behandelt werden. Gewalt gegen Kinder ist eines davon. Warum ist das Ihres Erachtens so in einer eigentlich doch exhibitionistischen Gesellschaft?
Schon Hitchcock gab als Prämisse für einen guten Thriller aus: „Never hurt a child.“ Im Kern hat er damit Recht. Kinder nur zum Zwecke der Unterhaltung in seinen Büchern zu quälen, ist pervers. Auf Missstände in unserer Gesellschaft aufmerksam zu machen, ist allerdings eine notwendige Aufgabe auch der Unterhaltungsliteratur. Diesen scheinbaren Widerspruch gilt es mit Fingerspitzengefühl auszuloten. Kindesmissbrauch ist – anders als die Ermordung von Millionärsgattinnen in Vorstadt-Villen – ein Massendelikt. Die Taten sind so unvorstellbar, dass wir sie lieber verdrängen wollen. Doch das eröffnet den Tätern die Möglichkeit, ihre Taten begehen zu können, ohne im Fokus der Öffentlichkeit zu stehen.
Sie sagen von sich selbst, Sie seien ein ausgesprochen ungeduldiger Mensch. Wirkt sich Ihre Ungeduld manchmal auch nachteilig auf den Schreibprozess aus?
Nein. Schreiben ist die einzige Tätigkeit, bei der ich vollkommen zur Ruhe komme. Ich kann dabei ja schlecht E-Mails lesen oder telefonieren. Zudem nehme ich mir Monate Zeit für meine Überarbeitungen.
Wie darf man sich Ihre Arbeitsweise überhaupt vorstellen? Arbeiten Sie nach einem festen Stundenplan von acht bis fünf?
Ich schaufele mir immer Zeitblöcke von mehreren Monaten frei, in denen ich keine Interviews gebe, nicht auf Lesereise bin, sondern ausschließlich Zeit zum Schreiben habe. In dieser Zeit versuche ich tatsächlich täglich spätestens ab neun Uhr am Schreibtisch zu sitzen und dort zu verharren, so lange wie es nur geht.
Wie ist das, wenn eine Idee zu einem neuen Roman in Ihnen geboren wird? Setzen Sie sich dann hin und schreiben los und lassen es „fließen“, oder erstellen Sie erst einmal ein Handlungs- und Personengerüst?
Ich erstelle mir immer erst ein grobes Exposé. Wenn ich anfange zu schreiben, meine ich immer die Charaktere zu kennen und zu wissen, wie die Geschichte verläuft. Schon nach zwanzig Seiten aber machen die Schweinehunde von Figuren dann immer was sie wollen und degradieren mich zum tippenden Zuschauer.
Sie sind seit drei Jahren mit Ihrer Frau Sandra verheiratet, der Sie NOAH gewidmet haben, und haben drei Kinder. Wie lässt sich das mit dem Leben eines Schriftstellers vereinbaren, der vorwiegend in seinem Kopf und dort in einer ganz anderen Welt lebt?
Wie? Ich bin verheiratet? Und was für Kinder ...?
Hat die Tatsache, dass Sie inzwischen Familienvater sind, Ihren Blick auf die Welt und vor allem Ihre Meinung zu und Ihre Einstellung gegenüber den Menschen und der Art, wie die miteinander umgehen, verändert?
Meine Sorgen, die früher hauptsächlich theoretischer Natur waren, haben sich konkretisiert. Da ich in meinen Büchern auch meine Ängste verarbeite, sind die Alpträume, die ich in ihnen beschreibe, zum Teil intensiver geschildert als früher. Und natürlich macht man sich mehr Gedanken um die Zukunft, wenn man etwas auf dieser Erde hinterlässt, was den eigenen Tod überdauert.
Teilen Sie Ihre innersten Gefühle mit den Menschen in Ihrem engsten Umfeld noch auf die völlig antiquierte Art der persönlichen Interaktion oder verschicken Sie in regelmäßigen Abständen Smiley-Faces, um Ihren jeweiligen Gemütszustand zu vermitteln?
Ich ertappe mich dabei, dass ich hinter einigen SMS einen Smiley anfüge, meistens aus Angst, dass jemand meinen Scherz nicht verstehen und mich wegen Beleidigung anzeigen könnte. Ansonsten liebe ich das persönliche Gespräch und ziehe es jeder elektronischen Form der Kontaktaufnahme vor.
Belasten Sie Ihr Gehirn noch damit, gedanklichen Anstößen nachzugehen und gegebenenfalls sogar zu vertiefen, oder googeln Sie in solchen Fällen sofort?
Ich bin ein fauler Mensch. Nachdenken geht einfacher als googeln (dazu muss man tippen, beim Nachdenken kann man einfach auf dem Sofa sitzen bleiben). Aber ansonsten finde ich googeln prima. Ich suche nur noch nach einem Weg, das Gegoogelte nicht sofort wieder zu vergessen.
All Ihre bisherigen Romane haben es auf die Bestsellerliste geschafft. Erwartet man inzwischen von Ihnen, dass es so kommt, und noch wichtiger: Erwarten Sie das selbst, und wären Sie maßlos enttäuscht, wenn es nicht passieren würde?
Ich denke schon, dass der Verlag eine Erwartungshaltung hat, von der sich auch ein Autor nicht freisprechen kann. Natürlich ist es unvernünftig, seinen Seelenzustand von Bestsellerplätzen abhängig zu machen. Aber es ist auch nicht die beste Idee, sich nachts um halb drei den Bauch mit Schokolade vollzuschlagen, und das habe ich auch schon getan.
Laut Aussage von Paul R. Ehrlich, Professor für Biologie an der Universität Stanford, liegen die Chancen, dass die westliche Zivilisation dieses Jahrhundert übersteht, bei etwa zehn Prozent. Wie ist da Ihre persönliche Einschätzung?
Das ist die Frage, wie wir „westliche Zivilisation“ definieren. Wenn damit gemeint ist, dass wir dann alle noch so leben, wie wir es heute tun – also weiterhin in ölverbrennenden Flugzeugen um den Globus jagen, mit Trinkwasser unsere Exkremente wegspülen, täglich Fleisch essen, alle Auto fahren und jedes Jahr ein neues Handy kaufen – dann ist die Chance wesentlich kleiner. Wenn wir rechtzeitig gegensteuern, könnte die Einschätzung von Paul Ehrlich zutreffen.
Fliegt Sebastian Fitzek noch Langstrecke? Oder anders gefragt: Auf was verzichtet Sebastian Fitzek seit seinen Recherchen zu NOAH?
Ich muss ganz offen gestehen: Meine Anstrengungen sind lächerlich angesichts der Probleme, die auf uns zurollen. Ich esse deutlich weniger Fleisch – und wenn, dann nur solches von Bauern aus der Umgebung, bei denen man sich vor Ort von den Stallbedingungen überzeugen kann. Ich vermeide innerdeutsche Flüge, hab mir wieder ein Fahrrad für den Weg ins Büro gekauft und benutze keine Plastiktüten mehr. Die Liste der „kleinen Schritte“ ließe sich noch fortsetzen, doch ehrlich gesagt, bin ich selbst nicht überzeugt, dass ich damit etwas bewirke. Das Hauptproblem ist das auf Verbrauch und Wachstum ausgerichtete System, in dem wir leben, und von dem ich selbst nicht weiß, wie es so geändert werden kann, dass wir uns die Vorteile bewahren und die Nachteile beseitigen können. Es war genau jener Ausdruck der Ohnmacht, der mich zum Schreiben von NOAH bewog.
Sie beschreiben in NOAH nicht nur den Alltag der jungen Alicia im größten Slum von Manila, sondern auch die Lebensumstände der angeblich „nur“ 11.000 Obdachlosen Berlins. Dabei wird überdeutlich, dass „Karrieren“ wie die des Drogendealers und des Drogensüchtigen keineswegs die Ursache, sondern die Folge einer Existenz am Rande der Gesellschaft sind. Was könnte Ihres Erachtens konkret und schnell getan werden, um dem effektiv entgegenzuwirken?
Ich fürchte, es gibt hier keine schnellen Lösungen. Das ist doch unser Kernproblem: Weil es für die größten Probleme der Menschheit, die uns gegenwärtig bedrohen (Hunger, Klimawandel, Terrorismus, Energiekrise, etc.) keine schnellen und einfachen Lösungen gibt, stecken wir alle (mich eingeschlossen) den Kopf in den Sand und tun so, als ob sich irgendwann alles von alleine regeln würde. Auch das Thema „Obdachlosigkeit“ wird meist nur an den Symptomen bekämpft, wenn im Winter über die Anzahl der U-Bahnhöfe diskutiert wird, die man als Notquartiere öffnen sollte.
Alles fängt in der Familie an, das ist in meinen Augen das wichtigste Ressort in der Politik. Jeder Mensch hat in seinem Leben früher oder später mit massiven Problemen zu kämpfen, aber diejenigen unter uns, die ein gesundes Familiengerüst um sich herum wissen, haben die größte Chance, diese Probleme zu überwinden. Ich teile die Ansicht, dass jeder Euro, den wir heute sinnvoll in die Unterstützung von Kindern und Jugendlichen investieren, später zehntausend Euro spart, die wir für Gefängnisse, Entzugsanstalten, Arbeitslosenunterstützung oder Obdachlosenunterkünfte benötigen.
Denen, die jetzt unter die Räder gekommen sind, helfen diese langfristigen Maßnahmen natürlich nicht mehr, und wir dürfen sie deswegen keinesfalls als verloren betrachten. Und dafür besteht auch gar keine Notwendigkeit. Wir leben in einem der reichsten Länder der Welt. Deutschland hatte letztes Jahr Steuereinnahmen von über sechshundert Milliarden Euro. Und da soll das Geld für Suppenküchen und Notunterkünfte fehlen? Allein mit den Mehrkosten, die der neue Berliner Flughafen verursacht, könnte man jedem Berliner Obdachlosen eine Eigentumswohnung schenken.
Für viele Autoren ist Schreiben wie Therapie. So sagen Sie, dass Sie sich mit Ihrer Arbeit die Ängste von der Seele schreiben. Welche spezifischen Ängste haben Sie sich mit NOAH von der Seele geschrieben?
In NOAH habe ich weniger einen Alp- als einen Wachtraum verarbeitet, den wir alle – so glaube ich – schon einmal hatten: Zu wissen, dass man auf eine Katastrophe zusteuert, und dennoch dagegen nichts unternimmt, weil man keine Ahnung hat, wie man sie aufhalten soll.
Stellen Sie sich bitte vor, NOAH würde in Hollywood verfilmt, man ließe Sie das Drehbuch schreiben, und Sie bekämen den Oscar dafür. Würden Sie sich bei Ihrer Dankesrede ähnlich zwerchfellerschütternd äußern, wie es der wortgewaltige Jonathan Zaphire in NOAH tut?
Wenn NOAH in Hollywood verfilmt wurde, ich das Drehbuch geschrieben und dafür einen Oscar erhalten habe, werde ich keine Rede halten, sondern die Ärzte bitten, meine Pillen abzusetzen, damit ich diese verdammten Halluzinationen wieder loswerde.