_Achtung, Spoiler!_ :SPOILER:
Eine einsame Insel, zwei Brüder und ein Traum: Kommandeure einer Walfänger-Flotte zu werden. Doch ein schrecklicher Unfall vereitelt den Plan des jüngeren Nils. Als sein Bruder Joris Jahre später stolz auf seine erste Walfangtour aufbricht, bleibt Nils auf Borkum zurück. Er hat eine Aufgabe: auf Joris‘ Verlobte Fenja und ihre kleine Schwester aufzupassen, denn die beiden schweben in großer Gefahr …
Der historische Roman „Die Walfängerin von Borkum“ von Claudia Schirdewan entführt den Leser in das Jahr 1653 und die raue Kulisse der kleinen Nordseeinsel Borkum. Er erzählt die Geschichte der jungen Fenja, welche sich, vom frühen Tod ihrer Mutter gezeichnet, hingebungsvoll um ihren alkoholabhängigen Vater und die Schwester Sina kümmert. Bereits als Kind hat sie ein enges Verhältnis zu Joris und seinem Bruder Nils, doch während Letzterer für sie ein Freund bleibt, entwickelt sich zwischen ihr und dem drei Jahre älteren Joris eine tiefe Liebe.
Schon zu Beginn des Buchs gelingt es der Autorin, die großen Träume der drei jungen Menschen zu zeichnen. Die Liebe zwischen Fenja und ihrem Verlobten scheint dabei unsichtbar über jedem Wort zu schweben; so als ob man nur die Hand ausstrecken brauchte, um sie zu greifen. Es wird klar, welche emotionale Sicherheit Joris der zunächst vorsichtigen und ängstlichen Fenja bietet. Umso schlimmer erleben wir auch den Schmerz mit, als sie den Verlobten auf das weite Meer ziehen lassen muss - zumal Sina in Gefahr schwebt, denn der auf ganz Borkum bekannte Walfänger Gerrit Hansen hat ein Auge auf das Mädchen geworfen. Und er zögert nicht, sich das zu holen, was er haben will. Zum Glück steht Fenja Joris‘ jüngerer Bruder zur Seite, den der Leser durch mehrmalige Wechsel der Erzählperspektive langsam besser kennenlernt.
Auch wenn im Roman die Geschichte der jungen Fenja im Mittelpunkt steht, muss ich zugeben, dass mich der Charakter von Nils oft mehr in den Bann gezogen hat. Nils ist zu einem gebrochenen Mann herangewachsen und wird durch den Erfolg des Bruders schmerzhaft an seinen für immer verlorenen Traum erinnert. Lebhaft habe ich seinen Verlust nachspüren können, ebenso wie die verhängnisvollen Entscheidungen, welche er im Verlauf der Geschichte trifft.
Hingegen entwickelt sich Fenjas Charakter eher schleppend. Immer wieder verfällt die Protagonistin in ihre Unsicherheit zurück, was das Erlebte aus ihrer Perspektive tragischer erscheinen lässt, im Allgemeinen jedoch etwas enttäuschend ist. Aufgrund des Covers und des Klappentextes hätte ich vermutet, dass sie sich mehr behaupten und nach weiteren Lösungsansätzen suchen würde. Stattdessen stagniert die im ersten Teil des Buchs aufgebaute Spannung im Mittelteil nach der Verkündung von Joris‘ Tod. Hier hätte ich mir mehr überraschende Wendungen oder Ortswechsel gewünscht, welche manche Geschehnisse weniger voraussagbar gemacht hätten.
Stilistisch wiederum gelingt es der Autorin mit bildhafter Sprache immer wieder aufs Neue, eine sehr realistische Atmosphäre zu kreieren. Besonders die zeittypischen Formulierungen und Denkweisen in der erlebten Rede mancher Figuren haben mich beeindruckt. Dennoch ist das Buch sehr verständlich und nachvollziehbar geschrieben, was es zugleich zu einer leichten Lektüre für Zwischendurch sowie einem interessanten Leseerlebnis an langen Abenden macht.
Um zu einem Fazit zu kommen, kann ich sagen, dass mich der Roman in Teilen begeistert hat. Sprachlich und atmosphärisch ist der Autorin ein großartiges Werk gelungen. Die Handlung und der Konfliktverlauf haben mich nicht zu hundert Prozent gefesselt; und auch die von mir aufgrund des Buchtitels erwartete Botschaft, dass man sich bereits vor vier Jahrhunderten als mutige Frau behaupten konnte, hat mich nicht erreicht und hätte meiner Meinung nach stärker ausgebaut werden können. Ebenso fehlten mir für einen historischen Roman reale historische Bezugspunkte, die dem Lesen der Geschichte an sich jedoch keinen Abbruch getan haben.
Ungeachtet meiner Kritikpunkte besitzt der Roman eine Menge Potenzial und ich kann ihn mit einem guten Gewissen an Freunde der großen Lesegefühle weiterempfehlen. :-)
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Pressestimmen
Cathrin Brackmann, WDR 4 Buchtipps, 6.7.2021