Als Selena im Zug einer jungen Frau begegnet, ist sie sogleich fasziniert von Marthas Offenheit und vertraut ihr ein Geheimnis an: Selena fürchtet, dass ihr Ehemann sie mit der Babysitterin betrügt. Nur ...
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Als Selena im Zug einer jungen Frau begegnet, ist sie sogleich fasziniert von Marthas Offenheit und vertraut ihr ein Geheimnis an: Selena fürchtet, dass ihr Ehemann sie mit der Babysitterin betrügt. Nur wenige Tage später ist die Babysitterin spurlos verschwunden und Selena die Letzte, die sie sah. Während die Polizei beginnt, in Selenas Umfeld zu ermitteln, erinnert diese sich plötzlich an Marthas Frage: „Was wäre, wenn dein Problem einfach so verschwinden würde?“ Selena ist zutiefst beunruhigt …
„Die folgsame Tochter“ ist ein (Psycho)Thriller von Lisa Unger, der am 23.12.2021 im Bastei Lübbe-Verlag erschienen ist. Mir hat die Geschichte unheimlich gut gefallen, denn die rätselhafte Handlung besitzt eine raffinierte, wendungsreiche und spannende Plot-Konstruktion, die mich besonders stark nach der Hälfte des Buches überraschen konnte. Obwohl dies ein eher ruhiger Thriller ohne drastische Gewaltdarstellung ist, war ich schnell von einem geheimnisvoll-düsteren Familienleben in den Bann gezogen. Es haben sich im Laufe der Zeit viele Fragen entwickelt und ich bin gemeinsam mit der Hauptprotagonistin Selena auf die Suche nach Antworten gegangen. Es entwickelten sich einige dramatische Szenen, die eine erschreckende Vergangenheit offenbart haben. Die Autorin verknüpft mehrere Erzählperspektiven, die nach und nach Licht in eine unheimlich verzwickte Situation bringen, damit alle Puzzleteile an ihrem richtigen Platz liegen. Ich hatte genügend Momente zum mit spekulieren, aber mit den hier unvorhersehbaren Ereignissen habe ich nicht mit gerechnet. Diese plötzlich eingebauten Überraschungsmomente haben daher viel zu einem intensiven Lesevergnügen beigetragen. Aber auch ausreichende und verschiedene Einblicke in die Tiefe menschlicher Seelen haben mir sehr gut gefallen, stückchenweise erfuhr ich einiges aus dem Leben von Selena, einem professionellen Trickbetrüger und der aufgeschlossenen und immer hinterhältigeren Martha, die Selena übrigens im Zug kennengelernt hat.
Geneva, die spurlos verschwundene Babysitterin, hat bis zu ihrem Verschwinden ein paar rätselhafte Details aus ihrem Leben offenbart, die ich der Handlung lange Zeit nicht zuordnen konnte. Ihre tief sitzenden und verkorksten Gründe für ihr Verhalten, die nicht nur zum ersten Mal in Selenas’ Familie für große Unruhe gesorgt haben, sorgten neben ihrem Verschwinden für große Neugier. Da sie von ihrer Schwester als vermisst gemeldet wurde und Selena offiziell die Letzte war, die Kontakt zu ihr hatte, wurde ihr Leben und das ihres Mannes komplett durchleuchtet. Ihre Familiengeheimnisse behält sie für sich und erwähnt sie gegenüber der Polizei mit keinem Wort. Sie will damit nicht ihren untreuen Mann beschützen, sondern an erster Stelle stehen ihre zwei Söhne, dessen Familienleben sie verzweifelt versucht, intakt zu halten. Die Lügen, nur die glanzvollen Augenblicke aus ihrem Familienleben zu zeigen, versucht sie, solange es geht, aufrechtzuerhalten. Selbst auf ihren Posts auf Instagram ahnt niemand, dass es auch in ihrem Leben hässliche, langweile und alltägliche Momente gibt. Lange war ich im Unklaren darüber, was mit Geneva passiert ist. Ob sie entführt wurde oder ob irgendwann ihre Leiche auftaucht, darüber konnte ich nur spekulieren. Auch, ob Selenas’ Mann seine Finger mit im Spiel hat, war lange ein großes Geheimnis.
Zwischendurch hat sich Oliver, Selenas’ Sohn zu Wort gemeldet und seine Beobachtungen, Gedanken und Gefühle zu der verzwickten und spürbar angespannten Familiensituation offenbart. Durch seine Sicht kam ich einigen Antworten langsam näher, denn der aufmerksame Bursche hat mehr mitbekommen, als alle gedacht haben. Schnell wurde mir klar, dass Selenas’ perfekte Familienleben trügt. Besonders Marthas’ Frage an Selena, ob sie sich nicht auch wünschen würde, wenn ihre Probleme einfach so verschwinden würden. Zwischen den beiden Frauen lag eine angespannte, aber dennoch vertraute Atmosphäre, die ich sofort deutlich spüren konnte. Doch warum Martha immer wieder um Aufmerksamkeit von Selena kämpft, hat mich nicht nur überrascht, sondern auch ziemlich geschockt. Denn auch Martha besitzt Geheimnisse, die Selenas’ Leben in den Abgrund ziehen, sie selbst bezeichnet sich nämlich als „Löschungsarchitektin“.
Man muss sich, besonders am Anfang, auf die verschiedenen Erzählstränge einlassen können, auch wird mal in der Gegenwart erzählt, mal wird die Vergangenheit eines Mädchens namens Pearl durchleuchtet, dessen Kindheit alles andere als normal war. Ein Privatdetektiv sucht sie seit Jahren, jedoch ohne Erfolg. Erst als ein Mädchen, nachdem ihre Mutter brutal ermordet wurde, spurlos verschwand, erkennt er immer mehr Zusammenhänge. Denn ein Foto der vermissten Geneva treibt ihn zu weiteren Ermittlungen an, die großen Erfolg versprechen. Die komplette Geschichte wird aus mehreren Perspektiven erzählt, auch dies war anfangs leicht verwirrend. Doch als ich mich eingelesen hatte, konnte ich dem vielschichtigen Thriller, der in zwei Teile aufgeteilt ist, gut folgen. Die düstere Atmosphäre hat hervorragend gepasst und somit bis zum Schluss für beste Unterhaltung gesorgt. Im Mittelpunkt stehen die Protagonisten und eine erschreckende, dramatische Vergangenheit, die geschickt und gut durchdacht eingebaut wurde. Dass diese sehr nachtragend sein kann, hat für ordentlich Spannung gesorgt. Es gab zwar keinen konstant hohen Spannungsbogen, auch kurze Längen hatten sich zwischendurch eingeschlichen. Trotzdem empfand ich sie nicht als langweilig oder störend, denn jede einzelne Handlung hat in dieser Geschichte seinen Sinn. Der lockere, leichte, bildliche und flüssige Schreibstil der Autorin hat mir sehr gut gefallen, zusammen kombiniert mit einer packenden Geschichte konnte mich dieser Thriller deshalb bestens unterhalten.
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Pressestimmen
Sonntagsanzeiger SWA, 03.09.2022