Madox, 8 Jahre alt
Er kannte den Mann nicht, der neben ihm herlief. Aber der Griff, mit dem der Fremde seine Schulter gepackt hatte, war schmerzhaft fest. Madox verstand nicht, was hier vor sich ging. Hatte sein Vater nicht gesagt, dass er in ein gutes amerikanisches Internat kommen würde? Aber das Gebäude, in dem sie sich befanden, sah gar nicht aus wie ein Internat.
Er konnte nicht sagen, wie lange sie schon den dunklen Gang entlang gingen, aber er schätzte, dass es mehr als eine Viertelstunde war. Immer wieder bogen sie links oder rechts ab, und Madox hatte inzwischen vollkommen die Orientierung verloren. Es war kalt. Alle paar Schritte hing eine einfache Glühbirne von der Decke, die den Weg spärlich erleuchtete.
„Wo gehen wir hin?“, fragte er.
Der Mann warf ihm einen bösen Blick zu und schob den Jungen weiter vorwärts. Madox war es nicht gewohnt, so behandelt zu werden. Normalerweise versuchte man ihm jeden Wunsch von den Augen abzulesen. Hier behandelte man ihn beinahe wie einen Sträfling.
Irgendetwas stimmte nicht.
„Dahin, wo nur die Hälfte aller Jungs den ersten Tag überlebt.“
Diese Worte ließen Madox aufhorchen, Angst verknotete seinen Magen.
„Überleben?“, fragte er mit zittriger Stimme. „Ich dachte, das hier ist eine Schule?“
Der Mann lachte, gehässig, wie es Madox schien, sagte aber nichts weiter. Bevor Madox sich überlegen konnte, was er jetzt tun sollte, hörte er die Geräusche.
Schreie. Weinen. Metall, das auf Metall traf. Noch mehr Schreie.
Plötzlich öffnete sich vor ihnen ein großer, runder Raum. An den Wänden standen Männer, ähnlich wie sein Begleiter, Schulter an Schulter. Vor ihnen standen Jungen. Madox schätzte, dass die meisten in seinem Alter sein mussten. In der Mitte stand ein runder Käfig. Gitterstäbe so dick wie sein Oberarm ragten über zwei Meter in die Höhe, wo weitere, waagerechte Stäbe ein flaches Dach bildeten. Es gab zwei gegenüberliegende Türen, vor denen jeweils ein Mann stand. Das Metall wirkte stumpf, getrocknetes Blut und anderes, von dem Madox nicht einmal wissen wollte, was es war, klebte an den Gitterstäben und bedeckte den rauen Zementboden.
In dem Käfig waren zwei weitere Jungen. Einer hielt ein blutiges Messer in der Hand. Der andere lag auf dem Boden. Langsam breitete sich eine rote Pfütze unter ihm aus.
Madox begann zu zittern. Was ging hier nur vor sich? Wo war er gelandet? Er wollte zurück zu seinem Vater! Zurück nach Italien!
Er versuchte sich von seinem Begleiter los zu machen, aber der hielt ihn nun mit beiden Händen an den Schultern fest. Währenddessen traten zwei der Männer in den Käfig. Der Junge wurde weggeführt. Sein Gesicht war tränenüberströmt. Die Leiche des anderen wurde achtlos über den Boden geschleift und verschwand kurz danach aus Madox‘ Blickfeld.
„Du bist dran“, sagte sein Wächter und drückte ihm ein Messer in die Hand. Bevor Madox reagieren konnte, wurde er mit einem anderen Jungen in den Käfig geschoben. Der andere war ein wenig größer als Madox, sein blondes Haar lang und dreckig.
„Nur einer von euch wird diesen Käfig lebend verlassen. Kämpft!“, rief einer der Männer. Madox starrte ihn fassungslos an, dann sah zu dem anderen Jungen hinüber, der genauso verwirrt und verängstigt wirkte wie er sich fühlte.
Ein metallisches Klicken ertönte. Madox war in der italienischen Mafia aufgewachsen. Er kannte dieses Geräusch. So hörte es sich an, wenn eine Pistole entsichert wurde.
Als er sich umdrehte, richtete sein Begleiter eine Waffe auf ihn. Ein kurzer Blick über die Schulter verriet ihm, dass der Begleiter des anderen Jungen das ebenfalls tat.
„Entweder ihr kämpft oder ihr sterbt beide!“
Madox‘ Herz schlug so schnell, dass es ihm jeden Moment aus der Brust springen musste. Seine Hände waren schweißnass. Das hier war kein Scherz. Dieser Ort war kein Eliteinternat. Es war eine Kampfschule. Und es gab nur einen Ausweg.
Madox drehte sich um und starrte den blonden Jungen an. Er kannte Gewalt, hatte bereits gesehen, wie andere mordeten. Und hier ging es um sein eigenes Überleben. Er umfasste das Messer fester und traf eine Entscheidung.
Danach versank alles in einem dunklen Nebel, aber als er wieder zu sich kam, starrte der blonde Junge mit leblosen Augen zu ihm auf. Er selbst war blutbefleckt.
Eine starke Hand landete auf seiner Schulter, das Messer wurde ihm aus der Hand genommen. Madox blickte zu seinem Begleiter auf.
„Gut gemacht, Kleiner“, sagte dieser, und zum ersten Mal klang so etwas wie Wertschätzung aus seiner Stimme. „Willkommen in der Schule des Lebens.“ Damit wurde er aus dem Käfig und dem Raum geführt. Direkt in eine winzige, dunkle Zelle, in der sich nichts außer einem Eimer und einer Matratze befand. Es gab kein Fenster. Keine Lampe. Hinter ihm lachte sein Begleiter.
„Und willkommen in deinem neuen Zuhause.“
12 Jahre später
Das Messer glitt über seinen Oberschenkel. Dann erneut. Und noch einmal. Schließlich zogen sich fünf gleichmäßige Schnitte über seine Haut.
Madox konzentrierte sich auf seine Atmung und ließ sich die Schmerzen nicht anmerken. Es würde nur dazu führen, dass er noch mehr Qualen ertragen musste.
„Warum wirst du heute bestraft, cerbero?“
Nach zwölf Jahren in diesem gottverfluchten Drecksloch hatte man ihm einen Beinamen verpasst. Cerbero. Höllenhund. Weil er aus der Hölle kam und seine Opfer mit sich dorthin zurückschleppte. Ein passender Name, wie er fand.
„Ich habe mein Zielobjekt nicht rechtzeitig getötet.“
„Wie viel Zeit hattest du?“
„Fünf Minuten.“
„Wie lange hast du gebraucht?“
„Sechs Minuten und zweiundvierzig Sekunden.“
„Genau.“
Der Mann lächelte ihn an, streifte sich einen Schlagring über und schlug ihm damit direkt ins Gesicht. Der Schmerz ließ Madox Sterne sehen, aber er hielt seinen Mund dennoch geschlossen. Das hatte er nach all dieser Zeit gelernt. Sei kalt. Nichts darf zu dir durchdringen. Du bist ein Killer. Ein Monster. Du kennst keine Schmerzen, du fügst anderen welche zu. Du bist geboren worden, um zu töten.
Und genau das war er. Ein verfluchtes Monster. Mit zwanzig Jahren hatte er bereits unzählige Menschen getötet. Und es würden noch viele folgen.
Einige Jahre später
Madox trat aus dem Käfig und blickte direkt in den Lauf einer Pistole.
„Die Waffen.“
Er blickte auf die klingenbesetzten Schlagringe, die immer seine Waffen der Wahl waren, und streifte sie sich von den blutigen Fingern. Vier Männer eskortierten ihn mit gezückten Waffen zurück zu seiner Zelle. Es war noch immer dieselbe Zelle, in der er all die Jahre geschlafen hatte, seit er ein unschuldiger Junge gewesen war. Jetzt war er eine Tötungsmaschine.
Mit dem Kampf an diesem Abend hatte er allen, die auf ihn gesetzt hatten, eine Menge Geld beschert. Seine Quoten lagen immer sehr weit oben. Schließlich war er bis jetzt ungeschlagen.
Hinter ihm rastete das Schloss mit einem metallischen Klicken ein. Schweiß und Blut vermischten sich auf seiner Haut, wurden zu seiner Rüstung. Er würde noch die nächsten vierundzwanzig Stunden in dieser Zelle sein, bevor man ihn zurück in eine Wohnung brachte. Nicht, dass er dort unbewacht war, aber seine Besitzer, denen sowohl dieses Drecksloch gehörte, als auch das Haus, in dem die Wohnung lag, schätzten ihn. Deswegen gab es für ihn ein paar Annehmlichkeiten, die anderen nicht vergönnt waren. Dazu gehörte, dass er nicht die ganze Zeit in einer Zelle hocken musste und sich hin und wieder eine Frau besorgen konnte.
Madox lehnte sich mit dem Rücken an die kalte Wand und lauschte auf die Geräusche, die von außen zu ihm drangen. Durch die Gitterstäbe, die seine Zelle abriegelten, konnte er Schatten über den Boden tanzen sehen. Er schloss die Augen und versuchte die Aufregung, die nach dem Kampf noch immer durch seine Adern pulsierte, zu ignorieren.
Vor einigen Jahren schon hatte er in Erfahrung gebracht, dass das Drecksloch, in dem er ausgebildet worden war, einem Zweig der amerikanischen Mafia gehörte. Die meiste Zeit kämpfte er im Käfig für sie. Manchmal ließen sie ihn nach draußen, um dort jemanden zu töten. Er hätte längst fliehen können, aber das interessierte ihn schon lange nicht mehr. Dieser Kerker war sein Zuhause. Hier konnte er seine Mordlust ausleben.
Ein leiser Pfiff und danach das Geräusch von Papier, das über den Boden glitt, brachten ihn dazu die Augen zu öffnen. Er sah gerade noch, wie ein dunkler Schatten im nächsten Gang verschwand.
Madox starrte das Stück Papier an, das unter der Tür durchgeschoben worden war, bevor er sich vorbeugte und es aufhob. Vier kleine Worte waren darauf gekritzelt.
Dein Vater ist tot.
Seine Hand ballte sich zur Faust, während er seine Zellentür anstarrte.
Jetzt hatte er einen Grund zu fliehen. Er konnte ohne Mühe jeden töten, der sich ihm in den Weg stellte. Und dann würde er den Mörder seines Vaters finden und ihm zeigen, was es bedeutete, wenn man cerbero verärgerte.