Christof Kessler - Autor
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Autor

Christof Kessler

Christof Kessler, Jahrgang 1950, ist Spezialist für Hirnerkrankungen.  Sein beruflicher Weg führte ihn nach Gießen, Berlin, Heidelberg, Köln und Lübeck. Seit 1992 ist er Professor für Neurologie und seit 1994 Direktor der Klinik für Neurologie der Ernst-Moritz-Arndt-Universität in Greifswald. Sein Interesse gilt einer praktisch ausgerichteten, patientenorientierten Neurologie. Er organisierte Veranstaltungen zum Thema Neurologie und Literatur und war wissenschaftlicher Berater bei der szenischen Umsetzung der Opernadaption von Oliver Sacks‘ „Der Mann, der seine Frau mit einem Hut verwechselte“.

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Interview

Interview | 08.11.2013

In seiner mehr als 30 jährigen Tätigkeit als Neurologe hat Christof Kessler die kuriosesten Fälle erlebt und viele Patienten behandelt. Basierend auf dieser Erfahrung hat er nun sein erstes Buch »Wahn« – eine Sammlung fiktiver Einzelfälle – zu Papier gebracht. Im Interview erzählt er u. a. was ihn n...

In seiner mehr als 30 jährigen Tätigkeit als Neurologe hat Christof Kessler die kuriosesten Fälle erlebt und viele Patienten behandelt. Basierend auf dieser Erfahrung hat er nun sein erstes Buch »Wahn« – eine Sammlung fiktiver Einzelfälle – zu Papier gebracht. Im Interview erzählt er u. a. was ihn neurologischen Erkrankungen fasziniert und warum es ihm wichtig war, besonders den Aspekt der Persönlichkeitsveränderung der Betroffenen zu schildern.
Sie sind seit 36 Jahren approbierter Arzt und seit nahezu 20 Jahren Direktor der Klinik und Poliklinik für Neurologie der medizinischen Fakultät der Ernst-Moritz-Arndt-Universität Greifswald. Jetzt haben Sie Ihr erstes Buch geschrieben. »Wahn« ist eine grandiose Sammlung fiktiver Einzelfälle aus dem Praxisalltag eines Neurologen, die teilweise tragische, komische oder auch bizarre Wendungen nehmen. Wie wichtig ist es Ihnen, dass der Leser weiß, dass es sich bei diesem Buch um Literatur und nicht um einen Einblick in Ihre Patientenakten handelt?
Natürlich möchte ich vermeiden, dass unsere Patienten das Gefühl bekommen, ihre vertraulichen Krankengeschichten gelangen als „Stories“ an die Öffentlichkeit. Sämtliche Geschichten in »Wahn« beruhen zwar auf meiner langjährigen Erfahrung als Arzt, sind jedoch frei erfunden. Ich habe in den mehr als 35 Jahren als klinisch tätiger Neurologe eine Vielzahl von Patienten mit ganz unterschiedlichen Erkrankungen behandelt. Besonders haben mich die menschlichen Schicksale und die Auswirkungen einer neurologischen Erkrankung interessiert. Ganz anders als bei Herz- oder Magen-Darm-Erkrankungen verändert sich bei neurologischen Erkrankungen häufig die Persönlichkeit des Patienten und seine Interaktion mit der Umwelt. Das Gehirn ist nicht ein Organ wie alle anderen, sondern es ist Sitz unseres Bewusstseins und unserer Persönlichkeit. Folglich schneiden Hirnerkrankungen tief in die Biografie des Betroffenen ein. Obwohl in der Literatur immer wieder neurologische Erkrankungen thematisiert werden, kommt dieser Aspekt häufig zu kurz. Deshalb bestand meine Intention darin, diese Problematik literarisch zu verarbeiten. Jede der zwölf Stories hat eine andere neurologische Erkrankung zum Thema. Das Spektrum reicht vom Schlaganfall über Multiple Sklerose bis hin zum Hirntumor. Ich wollte spannende Geschichten schreiben, die unterhalten und informieren, ohne dass es sich hierbei um ein Sachbuch oder gar ein Fachbuch handelt.
Die Titelstory Ihres Buches erzählt die Geschichte eines Parkinson-Patienten, der eigenmächtig die Dosis seiner Medikamente erhöht, die eigentlich seine Beweglichkeit und sein seelisches Wohlbefinden verbessern sollen, im Übermaß eingenommen aber Psychosen und Halluzinationen auslösen. Wie häufig kommt es in der Realität vor, dass Patienten von einem Stoff wie L-Dopa abhängig werden, und warum unterliegt ein solches Medikament nicht dem Betäubungsmittelgesetz?
Die Parkinsonsche Erkrankung kommt häufig vor. In Deutschland leben mehr als 200.000 Patienten mit dieser Erkrankung. Das L-Dopa ist ein gut wirksames und in der Regel gut verträgliches Medikament. Der behandelnde Arzt muss allerdings darauf achten, dass keine Nebenwirkungen wie Überbewegungen und Halluzinationen auftreten. Normalerweise entsteht bei der üblichen Behandlung kein Suchtverhalten. In meiner Geschichte »Wahn« habe ich einen absoluten Sonderfall beschrieben. Diese Fälle kann es geben, sie sind jedoch sehr selten. Bei dem von mir geschilderten fiktiven Patienten kamen eine fehlerhafte Behandlung und eine individuelle Veranlagung zusammen, so dass ein derart ausgeprägter ‚“Wahn«‘ entstehen konnte. Die Parkinson-Medikamente sind weit davon entfernt, als Betäubungsmittel eingestuft zu werden. Ein Junkie kann mit ihnen gar nichts anfangen, da die Bewegungsstörungen und andere Nebenwirkungen, die ausgelöst werden, jede euphorisierende Wirkung bei Weitem übersteigt.
In mehreren Ihrer »Wahn«-Geschichten informieren sich die frisch diagnostizierten Patienten durch Schnellstudium entsprechender Artikel der allwissenden Wikipedia über Stadium und Prognose ihrer Krankheit? Wie hoch ist dabei Ihrer Erfahrung nach die Verständnis-Fehlerquote und welche Gefahren birgt das?
Ich halte es für wichtig, dass Patienten über ihre Erkrankung gut informiert sind. Während es noch in meiner Ausbildung zum Neurologen üblich war, weitreichende Diagnosen vor dem Patienten geheim zu halten, ist heute eine umfangreiche Aufklärung über Diagnose und Prognose einer Erkrankung selbstverständlich und fest im medizinischen Alltag verankert. Da der Patient die Dinge, die er aus dem Internet oder aus der Presse erfährt, nicht gänzlich verstehen kann, hat das ärztliche Gespräch eine überaus wichtige Funktion.
Im gleichen Zusammenhang: In zwei Ihrer Stories stellen die Patienten über ihr Krankheitsbild eigene Recherchen an mit erschreckenden Konsequenzen. Ist das mit ein Grund dafür, dass Sie »Wahn« geschrieben haben? Um damit aufzuräumen, dass Hirntumor als gleichbedeutend mit Tod oder Multiple Sklerose als gleichbedeutend mit unwürdigem Vegetieren angesehen wird?
Erkrankungen des Gehirnes sind für den Laien oftmals sehr geheimnisvoll und werden häufig falsch eingeschätzt. Ich hoffe, dass der Leser durch die Lektüre meines Buches Informationen über die seelische Bewältigung neurologischer Erkrankungen erhält.
In einer Ihrer Geschichten, „Love Story“, wählt die Protagonistin einen Weg, der leider von vielen eingeschlagen wird, die sich mit einer lebensverändernden Diagnose überfordert fühlen. Statt sich der schulmedizinischen Therapie zu unterziehen, setzt sie nach Weisung einer Heilpraktikerin alle Medikamente ab und lässt sich von der Dame mit Schröpfkugeln gegen ihre MS behandeln – was fatale Folgen hat. So sehr alternative, homöopathische und holistische Behandlungsmethoden sicher ihren Platz in der modernen Krankheitsbekämpfung haben: Sollte Heilpraktikern seitens des Gesetzgebers nicht vielleicht endlich verboten werden, sich an Krankheiten wie Krebs, MS oder Morbus Parkinson zu versuchen?
Die sogenannte alternative Medizin kann meines Erachtens durchaus ihren Stellenwert bei bestimmten Krankheitsbildern haben. Nur muss jeder verantwortungsbewusste Heilpraktiker oder entsprechend tätige Arzt die Grenzen seiner Methoden kennen und respektieren. Er darf eine wirksame Therapie nach evidenzbasierten Kriterien nicht behindern. Tumorerkrankungen und schwerwiegende Entzündungsprozesse lassen sich nach anerkannter Lehrmeinung nicht mit Akupunktur oder Homöopathie behandeln, allerdings kann solch eine Behandlung unterstützend durchaus sinnvoll sein. Oftmals haben Heilpraktiker und Homöopathen mehr Zeit als der niedergelassene Arzt, um mit dem Patienten zu reden, so dass zusätzliche Aspekte angesprochen werden können. Dieses Nebeneinander muss man nicht gesetzlich regeln, der Patient soll über seine Therapie nach wie vor frei entscheiden können.
Die Story „Der Tausch“ ist eine der tragischsten Geschichten in »Wahn«. Wie häufig kommt es real vor, dass Angehörige – selbst unter Lebensbedingungen, die nicht so „unkonventionell“ sind wie in dieser Story – sich völlig von einem Menschen abwenden, der nicht mehr die Funktion erfüllen kann, die sie von ihm erwarten und gewohnt sind?
In dieser Geschichte wollte ich zwei Problemfelder beschreiben. Zum Einen, dass auch junge Menschen einen Schlaganfall bekommen können. In der Geschichte„Der Tausch“ führte bei dem Patienten ein spontaner Einriss der Halsschlagadern, ein Dissekat, zur Katastrophe. Es handelte sich um ein schicksalhaftes Geschehen, bei einem ansonsten gesunden, sportlichen und jungen Menschen. Zum Anderen habe ich wiederholt erlebt, dass eine schwerwiegende Erkrankung auf der Schwelle zu biografisch wichtigen Entscheidungen aufgetreten ist, z. B. bei einer Geschäftsgründung, einer Heirat oder einem Hausbau. In diesen Fällen ist eine besonders starke Solidarität der Familie gefordert.
Im gleichen Zusammenhang: Gibt es reguläre Unterstützung wie Selbsthilfegruppen oder Beratungsgespräche, die den Angehörigen von Betroffenen angeboten werden? Wenn ja, wie hoch ist die Beteiligung der Angehörigen? Und wenn nicht, wie ließe sich so etwas flächendeckend organisieren?
Selbsthilfegruppen für Patienten und Angehörige sind Gott sei Dank in der heutigen Zeit für viele neurologische Erkrankungen organisiert. Zum Beispiel gibt es im Umfeld der meisten neurologischen Kliniken Schlaganfall-Selbsthilfegruppen, die in der Regel eng mit der entsprechenden Klinik kooperieren. Diese Aktivitäten werden vorbildlich von der Stiftung „Deutsche Schlaganfallhilfe“ unterstützt. Auch im Bereich Multiple Sklerose gibt es die „Deutsche Multiple Sklerose Gesellschaft“ (DMSG), die als Interessenvertretung der Betroffenen sehr aktiv ist. Ähnliches gilt für Morbus Parkinson, Epilepsien und Muskelerkrankungen. Adressen und Informationsmaterial der entsprechenden Selbsthilfegruppen stellt jede neurologische Klinik zur Verfügung.
In der Geschichte „Der Überfall“ wird bei dem Protagonisten ein aggressiver Hirntumor diagnostiziert. Als er den Neurologen fragt, ob es ernst sei, bestätigt dieser das mit dem Hinweis darauf, dass „wir“ das Beste daraus machen müssen und verspricht, dabei zu helfen. Ist ein derartiges Verhältnis zwischen Arzt und Patient heutzutage viel zu selten geworden, da die Humanmedizin vielerorts schon lange keine Heilkunde mehr ist, sondern zu einem reinen Business verkümmert ist, und was müsste sich da ändern?
Ich glaube, dass sie hier mit den Ärzten zu streng sind. Die meisten Ärzte engagieren sich für ihre Patienten und sind für sie, häufig bis zur Selbstaufgabe, da. Der ökonomische Druck kommt von der Politik. Es war ein riesengroßer Fehler, unsere Gesundheit dem freien Markt zu überlassen, indem die meisten Krankenhäuser privatisiert worden sind. Ferner wächst der Bürokratismus ständig. Die Ärzte in den Krankenhäusern und Praxen haben vor lauter Vorschriften, Formularen und Berichten immer weniger Zeit, mit den Patienten zu sprechen. In der Öffentlichkeit wird außerdem zunehmend am Image des Arztes gekratzt, als seien alle Ärzte geldgierige Betrüger. Wen wundert es, dass immer weniger Mediziner ärztlich tätig sein wollen oder ins Ausland gehen.
Im gleichen Kontext: Wer in Deutschland Medizin studieren möchte, benötigt einen Abitur-Notendurchschnitt von 1,0 bis 1,4 oder muss lange Wartezeiten in Kauf nehmen. Das hat zwangsläufig zur Folge, dass viele junge Mediziner zwar brillante Köpfe, aber nicht unbedingt Idealisten sind, die Menschen helfen wollen, obwohl gerade das, wie die letzte Geschichte in »Wahn« beschreibt, die Wunder vollbringen kann, die man sich von neuen Medikamenten und jüngsten Erkenntnissen oft vergeblich erhofft. Wenn Sie die Zulassung zum Medizinstudium ganz allein reformieren könnten, welche Kriterien würden Sie dabei ansetzen?
Ich halte das alleinige Festhalten an der Abiturnote für falsch, da nicht gesagt ist, dass aus den Einser-Abiturienten automatisch gute Ärzte werden. In Greifswald werden 60% der Medizinstudienplätze durch ein Auswahlverfahren vergeben. Dieses beinhaltet ein standardisiertes Gespräch vor einer Kommission und ein Punktesystem bei dem auch außerschulische Leistungen und Aktivitäten z. B. soziales Engagement oder die sinnvolle Gestaltung der Wartezeit berücksichtigt werden. Dies halte ich für den richtigen Weg.
Als Arzt sind Sie in erster Linie Wissenschaftler, verfügen aber, wie »Wahn« beweist, eindeutig auch über enorme künstlerische Fähigkeiten. Ist die Kunst ein willkommener Ausgleich zum Mediziner-Alltag, oder haben Sie Ihren Krankenhausalltag durch den Ausflug ins Schriftstellerdasein erst so richtig zu schätzen gelernt?
Ich bin ja nicht der erste Arzt, der schreibt. Alfred Döblin zum Beispiel hat als Nervenarzt zwischen seinen Hausbesuchen an seinem ALEXANDERPLATZ geschrieben. Weitere Beispiele sind Gottfried Benn und Arthur Schnitzler. Ich glaube, dass die tiefen Einblicke, die Ärzte berufsbedingt in Lebensschicksale haben, bei einigen Ärzten das Bedürfnis nach einem kreativen Ausleben wecken. So war dies zumindest bei mir der Fall.
Sie schreiben gerade an Ihrem zweiten Buch. Worauf dürfen die Leser sich da freuen?
Ich schreibe tatsächlich aktuell an einem zweiten Band mit Geschichten, aber es ist auch ein längerer Roman in Vorbereitung.
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