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Anna Veronika Wendland

Dr. Anna Veronika Wendland ist Osteuropa- und Technikhistorikerin in Marburg. Für ihre Habilitationsschrift über die Kerntechnische Moderne hat sie viele Jahre in Kernkraftwerken in Osteuropa und Deutschland geforscht. Wendland bloggt bei salonkolumnisten.com über Energie- und Klimafragen und ist eine viel gefragte Gesprächspartnerin in der aktuellen Klimadebatte. Wendland war als Osteuropa-Expertin jahrelang Mitglied im wissenschaftlichen Beirat der Heinrich-Böll-Stiftung, die den Grünen nahesteht. Der Partei gehörte sie nie an. Trotzdem entschied sich die Stiftung für ihr Engagement – bis ihre Berufung im Frühjahr 2021 ohne Angaben von Gründen für beendet erklärt wurde.
 
 

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Interview

»In einer Zeit, in der es um jede Megawattstunde klimafreundlichen Stroms geht, halte ich es für grob fahrlässig, Kernkraftwerke abzuschaffen, die ihre Fähigkeiten jahrelang bewiesen haben.« | 30.03.2022

Frau Wendland, Sie waren eine ziemlich radikale Atomkraftgegnerin, wurden dann zur Kernenergieforscherin und nun erscheint Ihr Buch mit dem Titel „Atomkraft? Ja bitte!“. Wie kam es zu diesem Wandel?Ich kam aus der Friedens- und Anti-AKW-Bewegung und habe als junge Frau sehr viele Dinge erst mal unhi...

Frau Wendland, Sie waren eine ziemlich radikale Atomkraftgegnerin, wurden dann zur Kernenergieforscherin und nun erscheint Ihr Buch mit dem Titel „Atomkraft? Ja bitte!“. Wie kam es zu diesem Wandel?
Ich kam aus der Friedens- und Anti-AKW-Bewegung und habe als junge Frau sehr viele Dinge erst mal unhinterfragt übernommen. Die ersten Zweifel entstanden beim Studium in der Ukraine und beim Zusammentreffen mit Menschen aus der nach Tschernobyl evakuierten Stadt Prypjat, die selbst nach dieser Erfahrung nicht kategorisch gegen Atomkraft waren. Sie sagten, man müsse die Atomkraft eben besser organisieren, als es in der Sowjetunion der Fall war. Aber so richtig änderten sich meine Überzeugungen erst, als ich als Forscherin selbst in die Atomanlagen ging und den Umgang mit der Kerntechnik hautnah miterlebte.
Welche Erkenntnisse haben Sie dabei gewonnen?
Ich habe gelernt, wie ausgefeilt die Sicherheitsregimes sind, welche Rolle hinterfragende Haltungen und Selbstkritik spielen, wie man den Umgang mit Strahlung und radioaktiven Stoffen sicher gestalten kann – und wie man aus historischen Fehlern der Industrie gelernt hat. Gleichzeitig lernte ich, wie viele Mythen über die Atomkraft kulturell erlernt werden. Oftmals beschränken sich Wissen und Vorstellungen über Kernkraftwerke auf die „Simpsons“ und die Schullektüre von Gudrun Pausewangs Katastrophenroman „Die Wolke“. Und welche Wörter aus der Kerntechnik sind in die Alltagssprache vorgedrungen? „Kernschmelze“ und „das ist der Super-GAU“. Auf der anderen Seite erkannte ich, dass die Art und Weise, wie bei uns Atomkraft „gemacht“ wird, zu diesen Vorstellungen beitrug. Die Anlagen sind abgeschottet und mit Wassergräben umgeben wie Burgen. Es gibt für Außenstehende kaum Möglichkeiten, zu sehen, dass da drinnen ein ganz normales, menschliches Arbeitsleben vor sich geht. Dazu kommt, dass die AKW-Betreiber ihre Öffentlichkeitsarbeit nach dem Atomausstiegsbeschluss im Grunde eingestellt haben. Auch das war kontraproduktiv.
Sie schreiben, dass es unterlassene Hilfeleistung ist, eines der stärksten Instrumente zur CO2-Vermeidung zu zerstören – die Kernenergie. Kann es Deutschland nicht schaffen, mit erneuerbaren Energien CO2-neutral zu werden?
Es gibt nur ganz wenige Industrieregionen in der Welt, die es geschafft haben, ihre Elektrizitätsversorgung weitgehend zu dekarbonisieren. Sie alle nutzen entweder Wasserkraft oder Kernenergie oder beides. Da wir aber keine nennenswerte Wasserkraft haben und Kernenergie nicht mehr nutzen dürfen, haben wir ein Problem. Unsere Erneuerbaren, Windkraft und Sonnenenergie, sind stark wetter- und tageszeitabhängig. Ohne Backup-Kraftwerke oder Speicher können sie nicht versorgungssicher arbeiten. Das macht es uns so schwer, unsere Klimaziele zu erreichen. Würden wir gleichzeitig Kernkraftwerke betreiben, hätten wir dieses Problem nicht oder in weitaus geringerem Maße. In einer Zeit, in der es um jede Megawattstunde klimafreundlichen Stroms geht, halte ich es für grob fahrlässig, Kernkraftwerke abzuschaffen, die ihre Fähigkeiten jahrelang bewiesen haben.
Anfang des Jahres hat die EU-Kommission Investitionen in neue Gas- und Atomkraftwerke als klimafreundlich eingestuft. In Frankreich gehört die Atomenergie zur Staatsräson. Woher kommt der deutsche Energie-Sonderweg im Vergleich zu vielen anderen Ländern?
Wir sind eines der wenigen europäischen Länder, die noch einen nennenswerten Kohlebergbau haben. In unseren Energiekonzernen, aber auch Parteien und Gewerkschaften, war die Fossillobby mit ihrem Arbeitsplatz- und Standort-Argument immer ungeheuer stark. Dazu kam der Mythos der Kohle, die uns nach dem Krieg wieder hochgebracht hatte. An der Kohle hingen Identitäten. Das wirkte sich auch auf die deutsche Kernenergiepolitik aus. Anders als in Frankreich, das auch militärisch eine Atommacht ist, hat man sich nie getraut, die heimischen fossilen Energieträger konsequent durch Kernkraft zu ersetzen. Die Fixierung auf die Kernenergie als Hauptfeind hatte aber auch kulturelle Gründe. Im deutschen Bürgertum, aus dem die Ökologiebewegung hervorging, gab es immer starke industrieskeptische und naturromantische Grundströmungen. Durch diese Brille betrachtet erschien die Kernenergie als widernatürlich, zentralistisch, intransparent und autoritär, Erneuerbare Energien hingegen als sanft, kleinteilig und per se demokratisch. Die Atomunfälle im Ausland taten das Ihre, die Atomangst war echt empfunden. Nur wich die Risikowahrnehmung der Leute stark vom tatsächlichen Risiko der Kernenergienutzung ab. Als dann die Aktivisten der post-1968er Umweltbewegungen in jene Institutionen einrückten, in denen unsere politische Sozialisierung abläuft und unsere Diskurse gemacht werden – in Schule, Wissenschaft, Kirchen, Medien und Kultur – wandelte sich auch die Stimmung. Atomkritisch zu sein wurde zur Leitkultur.
Sie haben dieses Buch vor dem Angriffskrieg von Russland gegen die Ukraine geschrieben. Sie haben selbst jahrelang in der Ukraine gelebt und geforscht, Sie nennen die Ukraine Ihre zweite Heimat. Neben all dem schrecklichen menschlichen Leid – wie verändert dieser Krieg die Energieversorgung in Deutschland?
Massiv, auf jeden Fall. Es wird nun energischer als zuvor der Ausbau der Erneuerbaren und die Entwicklung von Speichertechnologien angegangen werden, was zu begrüßen ist. Gleichzeitig wurde man kalt erwischt – jahrelang galt russisches Erdgas als „Energiewende’s best friend“. Das hat damals Gerhard Schröder mit der ersten rot-grünen Koalition betrieben, das hat Merkel fortgeführt, das haben bis vor kurzem auch die Grünen noch so gesehen, die das Erdgas zur Brückentechnologie erhoben, bis die Wasserstoffwirtschaft am Start sei. Am problematischsten ist aber gar nicht der Strommarkt, sondern die Wärmeversorgung der Deutschen, die massiv vom Erdgas abhängt.
Nun hat sich der deutsche Wirtschaftsminister Robert Habeck vor wenigen Tagen Katar zugewandt, um von diesem Staat Gas abzukaufen. Was sagen Sie dazu?
Das ist jetzt so eine Art Not-Einkaufstour, um bis zum nächsten Winter die wegfallenden russischen Gasimporte zu ersetzen. Damit verlagert Habeck aber das Problem nur von einer Diktaturfinanzierung zur nächsten. Für die Grünen mit ihrem Anspruch einer bürger- und menschenrechtsorientierten Außenpolitik ist das hochproblematisch, sie riskieren ein massives Glaubwürdigkeitsproblem. Dasselbe sehen wir bei den anderen Maßnahmen: Braunkohle wird wieder salonfähig, was sich nur schlecht mit dem Klimaschutzanspruch Habecks verträgt. Habecks Strategie, um der Fossilfalle zu entkommen, ist die Elektrifizierung des Wärmemarkts. Wärmepumpen avancieren gerade zu den neuen Wunderwaffen der Energiewende. Sie in Altbestände einzubauen, ist aber gar nicht so trivial, und es soll natürlich nur erneuerbarer Strom sein dürfen, der die Wärmepumpen speist. Damit wiederum nimmt sich die Regierung einen dringend benötigten Handlungsspielraum, den sie hätte, wenn sie die Laufzeitverlängerung der noch betriebsfähigen AKW akzeptieren würde. Das sind sechs Anlagen, die eine Menge Strom liefern könnten, zehn bis vierzehn Prozent des deutschen Gesamtverbrauchs. Und Strom wird knapp werden in den nächsten Wintern.
Was würden Sie Robert Habeck gerne persönlich sagen?
„Mr Habeck, tear down this wall.“ Was unseren Handlungsspielraum derzeit massiv einengt, ist eine Mauer alter Vorurteile und Scheingewissheiten über die deutsche Kernenergie und ihr Verhältnis zu den Erneuerbaren. Man steckt fest in den Nullsummenspielen der EE-Lobbyisten. Sie sehen in der Kernenergie eine Konkurrentin der Erneuerbaren und eine Gefahr für ihr 100-Prozent-Erneuerbare-Projekt – nicht obwohl die Atomkraft klimafreundlich und zuverlässig ist, sondern weil sie es ist. Aber während es dem Klima ziemlich egal ist, ob nun Kernspaltung mit 12 Gramm CO2 pro Kilowattstunde am Start ist oder ein Windpark mit derselben Bilanz, ist es einem Verbundnetz nicht egal. Für die Netzstabilität zählt, dass ein volatiler Erzeuger wie die Windkraft ein stabiles Backup hat. Kernkraftwerke haben den Vorteil, beides zu können: sie sind CO2-arm, und sie sind zuverlässig. Überdies sind sie lastfolgefähig. Atomkraftwerke sind also in Wirklichkeit ziemlich gute Partner für Erneuerbare – wenn man endlich wieder das Klimaziel in den Mittelpunkt stellt und die Mauer des Selbstzweck-Denkens einreißt. Aber um das zu tun, braucht man Wagemut und kerntechnische Fachkunde, und beides fehlt derzeit.
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