Lars Kepler im Interview zu »Der Spiegelmann«

Gibt es für die Handlung von »Der Spiegelmann« einen realen Hintergrund?
Wir investieren sehr viel Zeit in die Recherche von realen Fällen. Aber wir benutzen nie wirkliche Verbrechen oder reale Opfer in unseren Geschichten. Unsere Bücher sollen unterhalten, selbst wenn es um ernste Themen geht. In »Der Spiegelmann« geht es um Dinge, die wir zutiefst fürchten – rätselhaftes Verschwinden, zerstörte Familien, grausame Morde. Kriminalliteratur ist sozusagen global, es geht bei uns um Ängste, die alle Menschen betreffen. In unseren Büchern nehmen wir uns dieser Ängste an.

Was reizt Euch daran, Charaktere wie Eric Maria Bark wieder zurück ins Geschehen zu bringen?
Das Gute an einer Serie ist, dass man sich nie von einem Charakter verabschieden muss. Man ahnt, dass man vielleicht eines Tages die Hilfe eines bestimmten Charakters wieder benötigen wird. Genauso war es bei Der Spiegelmann: Als eine Frau ermordet wird, ist der einzige Zeuge ein schwer gestörter Mann, und Joona Linna bittet deshalb seinen alten Freund, den Hypnotiseur, um Hilfe.

Wie ist es nach so vielen Jahren, noch immer über Joona Linna zu schreiben? Wie hat sich das Verhältnis zu ihm entwickelt?
Mit jedem neuen Buch kommen wir Joona ein Stückchen näher. Doch ihn umgibt immer noch ein großes Geheimnis. Das macht die große Faszination an ihm aus. Und darum bereitet es so viel Vergnügen, über ihn zu schreiben. Anders als Superhelden wie James Bond trägt Joona aus jedem Fall physische und seelische Narben davon. Seine Erfahrungen machen etwas mit ihm. Es kostet ihn einiges, so wie uns Autoren auch, darüber zu schreiben.

Gibt es bei der Erfindung neuer Charaktere irgendwelche realen Vorbilder?
Nein, wir benutzen nie Vorbilder. Handlung und Figuren sind eng miteinander verflochten, so dass es schwer wäre, dies auseinander zu dividieren. Wir könnten auch nicht sagen, ob zuerst die Handlung, dann die Figuren oder umgekehrt entstehen. Jedes Buch beginnt mit einer Idee, dem Kern der Handlung. Und darum herum wächst die Geschichte. Das dauert mehrere Monate. Wir beginnen unsere Bücher erst, wenn die Geschichte bis ins letzte Detail steht. Wir schreiben Hunderte von Notizen mit einzelnen Szenen und befestigen sie an der Wand. Wenn wir dann endlich mit dem Schreiben beginnen, gleicht es einem Zauber, wenn die Figuren ein Eigenleben annehmen und uns ihre Wünsche verraten. Es dauert seine Zeit, bis man sie alle genau kennt.

Wie stark hat Joona Linna sich über die Jahre verändert, insbesondere in Hinsicht auf seine Tochter und sein Privatleben?
Er macht sich zwar Gedanken, dass all das Böse, das er sieht, seine Empathie zerstören könnte. Doch wir teilen seine Sorge nicht. Er realisiert, dass er als Vater durch Abwesenheit geglänzt hat und versucht nun, die verlorenen Jahre mit seiner Tochter Lumi wieder gut zu machen. Andererseits ist Lumi inzwischen erwachsen und hat ein eigenes Leben. Joona hat sich zwar verändert über die Jahre, aber im Innersten ist er doch er selbst geblieben: intelligent wie Sherlock Holmes, hart wie Jason Bourne, aber gleichzeitig sehr menschlich. Es ist gerade dieses Einfühlungsvermögen, das ihn zu einem der besten Ermittler weltweit werden lässt. Und er vermag es, sich in den Kopf des Täters hineinzuversetzen, er fühlt dessen Ängste, seinen Schmerz und versteht deshalb, was ihn zu diesen furchtbaren Taten treibt.

Wieviel Freude, aber auch Herausforderung bedeutet es, Joona Linna in immer neue Abenteuer zu verwickeln?
Gerade das lieben wir am allermeisten. Wenn uns die Inspiration beflügelt, wird es ganz leise in unserem Arbeitszimmer, unser Herzschlag geht rascher, und das einzige Geräusch ist dann das Klacken der Computertastatur…

In Euren Thrillern gibt es immer recht viel Gewalt. Gibt es dabei Grenzen, die nicht überschritten werden sollten?Es geht uns dabei um Authentizität, denn Joona hat es mit einigen der schlimmsten Mordfälle in Schweden zu tun. Wir schreiben über Gewalt, denn wir verabscheuen sie, und wir fürchten sie. Wir schildern Gewalt nicht als etwas ‚Cooles‘ oder Romantisches, sondern wir beschreiben sie als das, was sie ist: furchtbar. Selbst wenn unsere Bücher gewalttätig erscheinen, so halten wir sie doch für optimistisch, da sie immer gut enden, so wie es in der Wirklichkeit auch sein sollte.

Bereitet es Euch immer noch Freude, zusammen zu arbeiten, oder hat sich etwas in Eurer Teamarbeit verändert?Wir arbeiten immer noch sehr gerne zusammen, vielleicht heute lieber denn je. Aber während unserer Arbeit an »Der Spiegelmann« wurde es gelegentlich so intensiv, dass wir aufstehen, vom Computer weggehen und frische Luft schnappen mussten, ehe wir das Schreiben fortsetzen konnten. Was sich verändert hat über die Jahre, ist der Zeitaufwand, den wir jetzt in die Vorbereitung für das eigentliche Schreiben investieren. Uns ist bewusst geworden, dass es sich lohnt, viel Zeit für die genaue Planung der Handlung, ihre Möglichkeiten und Facetten aufzubringen.

Wie wichtig ist die Recherche für die Bücher?
Recherche ist immens wichtig. Wir studieren forensische Studien, Protokolle von Autopsien, Verhören, die Taktik bei Befragungen und Vorgehensweisen bei der Verbrechensaufklärung, besuchen Tatorte, Gefängnisse, psychiatrische Institutionen und so weiter. Natürlich kann man über den Gebrauch einer Schusswaffe lesen, doch es ist ein völlig anderes Gefühl, eine Pistole in der Hand zu halten, zu schießen und den Rückstoß bis in die Schulter zu spüren. Bei »Der Spiegelmann« mussten wir uns sehr ausführlich mit traumatischen Störungen beschäftigen, als wir den Hypnotiseur Bark wieder ins Spiel brachten.

Ist schon der nächste Joona Linna-Roman in Arbeit?
Als wir »Der Spiegelmann« fertig geschrieben hatten, fühlten wir uns wie nach jedem Buch: Wir haben alles gegeben und werden nie wieder eine einzige Zeile schreiben. Also haben wir erst einmal Ordnung im Haushalt geschafft, die Wäsche erledigt und lauter solche Alltäglichkeiten. Nach ein, zwei Tagen dann hatten wir die Idee zu einem nächsten Roman mit Joona – und an diesem arbeiten wir jetzt.

Gibt es Pläne für eine Lesereise durch Deutschland?
Wir leben in seltsamen und beunruhigenden Zeiten. Aber sehr gerne würden wir so bald wie möglich wieder nach Deutschland kommen. Die Leser dort sind phantastisch. Und bei unserem letzten Besuch hatten wir fünf Mal Wiener Schnitzel!