Wie würden Sie BLACK SUN in drei Wörtern beschreiben?
Furchterregend, spannungsvoll, nachdenklich stimmend (3.5 Wörter)
Sie sind in England aufgewachsen mit einer russischen Mutter und einem britischen Vater – wie hat Sie das geprägt? Was waren die Vorteile und die Herausforderungen für Sie?
Eine spannende Frage. Die spontane Antwort ist, dass mein Geist britisch ist und meine Seele russisch – aber natürlich ist es komplizierter als das. Es stimmt, dass mein intellektueller und politischer Bezugsrahmen vollständig auf meiner britischen Schulbildung basiert, aber mein Temperament ist eher russisch – insofern als ich emotionaler bin, verantwortungsloser und mehr zu selbstzerstörerischem Verhalten neige und eine gewisse Skepsis gegen Regeln hege. Nationale Stereotypen mögen schwer zu rechtfertigen sein, aber sie traten sehr offenkundig in meinen Eltern zutage. Mein britischer Vater war stets recht reserviert, verschlossen und distanziert, während meine Mutter temperamentvoll, warmherzig und emotional unbeständig war. Sie hatte lieber recht, als glücklich zu sein. Ich ertappe mich dabei, mit der Zeit mehr und mehr wie meine Mutter zu werden – und somit vielleicht auch russischer.
1995, Sie waren 24, begannen Sie für die MOSCOW TIMES zu arbeiten. Nur wenige Jahre nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion. Wie war die Stimmung damals in der Gemeinschaft Unabhängiger Staaten (GUS)?
Die drei Jahre, die ich für die MOSCOW TIMES gearbeitet habe, gehören zu den besten Jahren meiner journalistischen Karriere. Ich hatte den ganzen wuselnden, lärmenden, ungezügelten Zirkus, der Moskau in der ersten Hälfte der 90er war, zum Spielplatz. Als Ausländer genoss ich außergewöhnliche Freiheit. Ich kroch unter die Bahnsteige der Kursker Eisenbahn, um obdachlose Landstreicher und minderjährige Prostituierte zu interviewen. Ich fuhr Motorrad mit der ersten Bikergang von Moskau, besichtigte das entsetzlich überbelegte Gefängnis der Stadt. Ich Besuchte Nachtclubs, in denen nackte Männer und Frauen in riesigen gläsernen Pools schwammen, die in die Wand eingelassen waren, und feierte in Kasinos voller Mafiosi. Einige meiner alten Freunde und Bekannten starben – zwei wurden in einem Bandenkrieg erschossen, eine Ex-Freundin wurde von einem Fremden erdrosselt, weitere starben an einer Überdosis. Es war eine merkwürdige, brutale, anarchische, aber auch eine erhebend freie, ungehemmte Zeit.
Dennoch haben sie die frühen 60er als zeitliches Setting für Ihren Thriller gewählt – warum? Was fasziniert Sie an dieser Zeit?
Die 1960er-Jahre waren eine Ära voll großer Hoffnung und Stolz für die Russen. Zum ersten Mal seit dem Ersten Weltkrieg herrschte Stabilität und Wohlstand. Russland schickte einen Menschen ins All, es wurden neue, großzügige Wohnungen für einen Großteil der Bevölkerung gebaut, Die Paranoia und das Blutvergießen der Stalinzeit lagen in der Vergangenheit, und es schien wirklich so, als würden die UdSSR eine mutige neue Gesellschaft aufbauen. Zudem waren die 1960er eine Zeit, in der freies Denken bis zu einem gewissen Grad erlaubt war. Kritik am System wurde toleriert, was zu einem pulsierenden intellektuellen Austausch führte, der so grausam unterdrückt worden war unter Stalin. In vielerlei Hinsicht waren die 1960er-Jahre eine goldene Zeit für die Sowjetunion – und trotzdem existierten die alten Strömungen unter der Oberfläche weiter – Unterdrückung durch die Polizei sowie konservativer Widerstand gegen Khrushchevs Tauwetter.
Ihr Protagonist Alexander Wassin ist KGB-Agent. Er ist zudem ein Mann mit einem Gewissen. Die Wahrheit ist für ihn ein wertvolles Gut. Eine Tatsache, die ihn später im Buch vor ein Dilemma stellen wird. Was waren Ihre Gedanken, als Sie entschieden haben, wie Ihr „Held“ sein soll? Was war Ihnen wichtig, dass er an Eigenschaften mitbringt?
In den meisten Romanen mit einem historischen Setting bedarf es eines Außenseiters als Helden – jemanden, der sowohl die Empfindsamkeit der modernen Leser versteht als auch die Gedankenwelt ihrer eigenen Welt und Zeit. Mir gefiel die Vorstellung eines Helden, der ein ehrlicher Mann innerhalb einer unehrlichen, bösen Organisation ist. Jemand, der versucht, eine Art von Moralkodex zu befolgen, während alle anderen um ihn herum Gesetz und Moral zu ihrem Vorteil biegen.
Waren Sie selbst einmal in Arsamas-16, der ehemals geheimen Stadt, in der das Buch spielt? Und falls ja, wie war das für Sie? Gibt es dort immer noch eine Atmosphäre des Verbotenen?
Leider war ich nie in Arsamas-16, aus gutem Grunde: Die Stadt ist auch heute noch abgeriegelt, da dort Russlands nukleare Waffenköpfe produziert werden. Russische Staatsbürger bekommen manchmal die Erlaubnis, der Stadt einen Besuch abzustatten, aber für Ausländer ist dies nahezu unmöglich. Die geographische Lage, wie ich sie im Buch beschriebe, ist aber korrekt dank Google Maps, das einem einen Blick per Satellitenfoto aus dem All erlaubt.
Wird es einen weiteren Band mit Alexander Wassin geben?
In der Tat, ja – RED TRAITOR spielt ein Jahr nach BLACK SUN während der Kuba-Krise und basiert wieder auf zwei wahren Geschichten aus dem Kalten Krieg.
Was lesen Sie derzeit?
Varlam Shalamovs KOLYMA STORIES, ein erschütternder Bericht über die Erlebnisse des Autors in einem sowjetischen Gulag in den 1940er-Jahren. Der dritte Alexander-Wassin-Band wird im Jahr 1963 in einem Gulag in Vorkuta spielen und sich um die Ermordung Kennedys drehen.
Was möchten Sie Ihren deutschen Leserinnen und Lesern noch mit auf den Weg geben?
Ich denke, dass die Frage, wie die Vergangenheit sich bis in die Gegenwart erstreckt und dort eine Rolle spielt, für deutsche Leser sehr viel lebendiger ist als für britische. Wie in allen Ländern mit einer dunklen, totalitären Vergangenheit, so hat die Frage nach den Entscheidungen, die jeder im Angesicht von Unterdrückung durch den Staat für sich selbst treffen muss, auch deutsche Familie berührt. Die Geschichte von Alexander Wassin und seine Entscheidung, für etwas zu kämpfen, an das er glaubt, anstatt sich anzupassen und Befehlen zu gehorchen, stellen einen Spiegel dar – ein Symbol für den universellen Kampf der Menschen gegen die Mächtigen, der Erinnerung gegen das Vergessen, des Individuellen gegen das Kollektiv.
Interview: Julia Abrahams