Mina Saidze - Autor
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Autorin

Mina Saidze

Mina Saidze (*1993) ist eine mehrfach ausgezeichnete Gründerin, Datenexpertin, Publizistin und eines der bekanntesten Gesichter der Digitalszene in diesem Land. Sie wuchs als Tochter politischer Aktivisten aus Afghanistan in Hamburg auf und arbeitet im Bereich Big Data und Künstliche Intelligenz für Hightech-Startups und Konzerne. Im Oktober 2023 erscheint ihr Sachbuch "FairTech: Digitalisierung neu denken für eine gerechte Gesellschaft" bei Quadriga.
Mit Inclusive Tech gründete sie europaweit die erste Beratungs- und Lobbyorganisation für Diversity in Tech und KI-Ethik. Darüber hinaus ist sie sehr gefragt als Keynote-Speakerin, u.a. für Google, FAZ und SAP. Die Fachzeitschrift t3n betitelte sie als “Digital-Pionierin” und das US-Magazin Forbes platzierte sie auf der „30 under 30”-Liste 2021. Zudem erhielt sie den Digital Female Leader Award von Global Digital Women und Emotion Award.
Auf ihren Social Media Kanälen ist sie sehr aktiv und hat eine gute Reichweite, mit mehr als 19.000 Followern auf ihrem Hauptkanal LinkedIn, für den sie als LinkedIn Top Voice und Business Influencer ausgezeichnet wurde. Über ihre Arbeit wurde u.a. in Der Spiegel, ZDF,  Süddeutsche Zeitung, Die Welt und weiteren Medien berichtet.

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Interview

Mina Saidze im Interview zu "FairTech" | 11.09.2023

Du setzt dich dafür ein, dass Tech, Big Data und KI demokratischer werden. Was heißt das? Und warum ist das wichtig?Data und AI Literacy ist für mich wie eine Sprache, die jeder beherrschen muss. Nicht jede und jeder muss einen preisverdächtigen Roman schreiben können, aber er oder sie sollte in der...

Du setzt dich dafür ein, dass Tech, Big Data und KI demokratischer werden. Was heißt das? Und warum ist das wichtig?
Data und AI Literacy ist für mich wie eine Sprache, die jeder beherrschen muss. Nicht jede und jeder muss einen preisverdächtigen Roman schreiben können, aber er oder sie sollte in der Lage sein, zu lesen und zu schreiben. Das bedeutet für mich konkret die Fähigkeit, Daten zu lesen, mit ihnen zu arbeiten, sie zu analysieren und zu kommunizieren.
Der Aufbau von Daten- und KI-Kompetenzen wird immer wichtiger, damit jeder von uns an der Debatte teilhaben kann: Laut einer Studie von Forrester Consulting aus dem Jahr 2022 er- warten heute 82 Prozent der befragten Entscheidungsträger von ihren Mitarbeitenden in allen Abteilungen – einschließlich Produkt, IT, Personal und Betrieb – grundlegende Datenkenntnisse. Bis 2025 wird erwartet, dass fast 70 Prozent der Mitarbeitenden in ihrem Beruf viel mit Daten arbeiten werden – 2018 waren es noch 40 Prozent.
Nur wer Daten verstehen und kommunizieren kann und weiß, was KI ist und wie wir damit umgehen, kann in unserer Gesellschaft der Zukunft teilhaben.
Was, wenn ich mich noch überhaupt nicht auskenne mit Algorithmen, Daten, KI etc.? Müssen wir jetzt alle nochmal in die Schule oder wer bringt uns bei, mit KI umzugehen?
Ich finde es wichtig, dass auch junge Menschen verstehen: Wie schafft es die Shopping-Seite, mir genau die Kleidung anzuzeigen, die mir gefällt? Oder warum kann eine Dating-App womöglich die Liebe meines Lebens finden? Beim Schulfach Datenkunde sollte vermittelt werden, ab wann wir mit Daten konfrontiert sind. Zum Beispiel: ab dem Moment, in dem du eine App verwendest und dich durchklickst, werden im Hintergrund Daten gesammelt. Daten sind ein integraler Bestandteil unseres Alltags und die Digitalisierung erfordert das Prinzip des lebenslangen Lernens. Daher ist die methodische Kompetenz der Datenanalyse nicht nur für Techies relevant, sondern für (fast) jeden Beruf unserer heutigen Zeit. Die Datenanalyse ist eins der wichtigsten Skills im 21.Jahrhundert.
Der britische Premierminister Rishi Sunak erwähnte in seiner Rede die Bedeutung von Daten und Statistik für die Bildung der Zukunft: »Derzeit lernt nur die Hälfte aller 16- bis 19-Jährigen überhaupt Mathe. Doch in einer Welt, in der Daten allgegenwärtig sind und Statistiken jeden Arbeitsplatz untermauern, werden die Arbeitsplätze unserer Kinder mehr analytische Fähigkeiten erfordern als je zuvor. Und wenn wir unsere Kinder ohne diese Fähigkeiten in die Welt hinauslassen, lassen wir sie im Stich.« Deswegen fordere ich eine digitale Bildungsreform - und zwar jetzt! Wie diese genau aussieht, beschreibe ich im Buch.
Wo siehst du die größte Aufgabe für mehr Inklusion in der Tech-Industrie?
Unsere Maschinen sind nur so gut wie wir sie machen, und wir müssen es schaffen, dass wir diese endlich divers und fair gestalten. Wir dürfen Menschen nicht aufgrund von Merkmalen wie Geschlecht oder Herkunft in Technologien wie der Gesichtserkennung ausschließen. Und das bringt uns zu einem grundlegenden Dilemma: Können Maschinen überhaupt moralisch handeln? Unsere menschliche Moral umfasst die unterschiedlichsten Lebensbereiche, bei einer Maschine hingegen bezieht sie sich auf einen bestimmten Anwendungsfall. So kann eine Maschine nicht wie ein Mensch in vollem Umfang moralisch handeln. Auch können Maschinen keine Emotionen empfinden, sodass sie nicht über ein Bewusstsein und damit auch nicht über Willensfreiheit verfügen.
Umso wichtiger ist es, dass wir mit dem Fortschritt der Technologie immer wieder die moralischen Herausforderungen im Blick behalten – auch wenn es keine einfache und kurze Antwort auf diese Fragen gibt. Manchmal bleibt die Antwort auch offen, weil die Debatte und der Forschungsstand in Kinderschuhen stecken. Trotzdem sollten wir die aktuellen Entwicklungen im Blick behalten und moralische und soziale Aspekte so früh wie möglich in der gesellschaftlichen Debatte wie auch im Design dieser Systeme berücksichtigen.
Wie stehst du zu Freiheit versus Regulierung für Tech?
Als Bürgerin möchte ich Freiheit genießen. Die Freiheit, mein nächstes Urlaubsziel zu wählen. Die Freiheit zu entscheiden, für wen ich arbeite. Und die Freiheit, über die Preisgabe und Kontrolle meiner persönlichen Informationen zu entscheiden, wenn ich digitale Dienste verwende.
Bei keiner meiner Entscheidungen kann ich mich dem Einfluss von Technologie ganz entziehen. Die Technologie kann entscheiden, ob ich von der Gesichtserkennung am Flughafen erkannt werde oder sogar als Sicherheitsrisiko eingestuft werde. Auch kann sie darüber entscheiden, ob ich zu einem Job-Interview eingeladen oder direkt ausgesiebt werde – aufgrund meines Lebenslaufs, der von einer KI ausgewertet wurde. Und Technologie weiß so viel über mich, dass sie entscheiden kann, wie sie meine persönlichen Informationen verwenden kann, um mich in meiner Meinungsbildung oder Konsumentscheidung zu beeinflussen.
Von der Art und Weise, wie wir diese Technologien gestalten, ist es in höchstem Maße abhängig, ob sie einen positiven Einfluss hat oder sogar das Gegenteiliges bewirkt. Ich halte eine gute Balance zwischen Regulierung und Freiheit für sinnvoll, um die Entwicklungen nicht zu verlangsamen und einen ethischen Rahmen zu schaffen. Mit der EU-KI-Verordnung wird Europa Weltmeister für Tech-Regulierung sein.
„Weltmeister“ klingt gut! Heißt das, Deutschland ist gut aufgestellt für alles, was in Sachen KI auf uns zukommt?
Wir haben uns in Deutschland zu lange auf Branchen verlassen, die zwar immer stärker automatisiert werden, aber nicht unbedingt zukunftsfähig sind. Wenn wir nicht die digitale Infrastruktur liefern, wenn KI-Errungenschaften nicht von uns kommen, wofür stehen wir Deutschen in dieser neuen Weltordnung überhaupt? Wann haben wir uns in Deutschland mit einer Neugründung in der IT-Welt einen Namen gemacht? Wo zum Teufel bleibt unser deutscher Erfindergeist, der uns einmal ausgezeichnet hat? Die Gründung des letzten namhaften deutschen IT-Unternehmens, SAP, fand Anfang der Siebzigerjahre statt, liegt also mehr als ein halbes Jahrhundert zurück. Wir brauchen einen Wirtschaftsboom, der fest in der digitalen Welt verankert ist, »Tech made in Germany«.
Die Ingenieurskunst, die wir Deutschen in der Automobilindustrie mit den weltweit bekanntesten Automarken, darunter Mercedes-Benz, BMW, Volkswagen und Audi, prägten, wird heute von den USA und China durch den Fokus auf E-Mobility dominiert. Um nicht in eine Sinnkrise zu stürzen, rühmen wir uns damit, Künstliche Intelligenz zu regulieren. Statt Technologien selbst zu erfinden und auf den Markt zu bringen, wollen wir seit Neuestem Weltmeister für die Zertifizierung technologischer Produkte werden. Die Wirtschaftsprüfungs- und Beratungsgesellschaft PwC Deutschland, die weltweit größte nicht börsennotierte Prüf- und Zertifizierungsgesellschaft DEKRA und der Innovationsstarter Fonds Hamburg wollen einen internationalen Zertifizierungsanbieter für Künstliche Intelligenz namens CertifAI gründen. Durch den Anstieg regulatorischer Vorgaben steigt die Nachfrage nach Beratung, Prüfung und Zertifizierung in Bezug auf KI-Produkte, um jegliche Sicherheitsbedenken auszuräumen. Aber ist das schon alles? Ist Deutschland – eigentlich ganz Europa – zum Ordnungsamt für Technologie mutiert, das Knöllchen verteilt, wenn falsch geparkt bzw. entwickelt wird? Dieser Wahn der Regulatorik kommt nicht aus dem Nichts: Die EU-KI-Verordnung wird fatale Konsequenzen haben – oder eben auch Chancen bieten, um auf die Bedürfnisse der Hersteller von technologischen Diensten mit einer relevanten Beratungsdienstleistung einzugehen.
Was muss Politik jetzt leisten, um eine gute Balance zu erreichen?
Es ist Zeit für eine Wende, wo akute Probleme wie der Netzausbau, der sich von Jahr zu Jahr verschleppt, endlich adressiert werden, statt neue Leuchtturmprojekte wie Gaia-X ins Leben zu rufen, die in ihrer Komplexität massivst unterschätzt werden. Um es mit den Worten einer verzweifelten Lehrkraft zu formulieren: Wir müssen erst mal unsere Hausaufgaben wie den Netzausbau machen, bevor wir die Zusatzaufgaben wie Gaia-X machen.
Wenn es so weitergeht, hinken wir nicht nur noch weiter hinterher, sondern haben Ressourcen verschwendet, die in andere Projekte und Förderprogramme investiert werden könnten. Der Blick auf Technologien sollte uns daran erinnern, dass in Deutschland immer noch ein Mangel am Wesentlichen besteht, nämlich Laptops für alle Bürger, insbesondere Schüler, und eine digitale Infrastruktur.
FairTech bedeutet Zugang zur Digitalisierung und die Möglichkeit, diese zu gestalten. Es bedeutet auch, dass jeder Zugang dazu haben sollte, unabhängig von seinem Standort. Es ist an der Zeit, Funklöcher zu schließen und sicherzustellen, dass jeder einen Computer besitzen kann. Nur so können wir eine Zukunft schaffen, in der Technologie gerecht und für alle zugänglich ist. Indem wir die digitale Infrastruktur verbessern und allen Menschen die Möglichkeit geben, von den Vorteilen der Digitalisierung zu profitieren, können wir eine inklusive Gesellschaft formen, in der Technologie eine treibende Kraft für Fortschritt und Chancengleichheit ist.
Für die Wirtschaft steckt viel Profitpotenzial in KI – aber wo siehst du das größte Potenzial für uns alle, im Alltag, in der Schule, in Job? Was erspart oder bringt uns allen KI in Zukunft?
Wir dürfen bei dieser Debatte nicht vergessen, dass wir mithilfe von Technologie Ungerechtigkeiten, die in unserer Gesellschaft Realität sind, aufdecken und dagegen vorgehen können. Daher soll an dieser Stelle einmal die Utopie wirksam werden, indem wir fragen: Was kann Technologie Gutes tun? Wo kann sie unsere Lebenswelten verbessern? Wo kann sie Ungerechtigkeiten aufdecken und beheben? Es wird uns ein Spiegel vor Augen gehalten, wie die Gesellschaft funktioniert und wie sie nicht gut funktioniert, und in der Vergrößerung, weil die KI Lösungen so schnell skalieren, merken wir jetzt, dass das Thema wichtig ist. Jeder dritte Mensch mit Migrationshintergrund wird laut einer Umfrage der Antidiskriminierungsstelle auf dem Mietmarkt rassistisch diskriminiert. Mithilfe von KI können wir aufdecken, an wen ein Vermieter oder eine Wohnungsgesellschaft Immobilien vermietet oder verkauft. Werden dort alleinstehende Männer bevorzugt, werden Wohnungen ungern an alleinerziehende Frauen oder Menschen mit nicht deutsch klingenden Namen vergeben? Eine solche Auswertung könnte helfen, Muster im Entscheidungsverhalten zu erkennen und sogar Vermieter zur Verantwortung zu ziehen.
Was wird die wichtigste Innovation in 2023 und 2024?
Ein Tag, den ich nicht so schnell vergessen werde, war der 16. Mai 2023. Ich saß mit Popcorn wie gebannt vor meinem Laptop. Nein, ich habe mir nicht etwas auf Netflix oder in der ZDF-Mediathek angeschaut. Ich habe mir die Aussagen des OpenAI-CEOs Sam Altmans an der Seite von IBMs Chief Privacy Officer Christina Montgomery vor dem US-Komitee angehört. Klingt erst mal genauso spannend wie Menschen, die sich ewig darüber auslassen, ob sie einen Parkplatz gefunden haben oder nicht. Für mich war es unvergesslich, weil ich wusste, dass mit Altmans Aussagen der Ton angegeben wird, wie Washington KI-Technologie reguliert.
So sagte Altman gegenüber dem Komitee: »Wenn bei dieser Technologie etwas schiefgeht, kann es richtig schiefgehen, und das wollen wir lautstark zum Ausdruck bringen. Wir wollen mit der Regierung zusammenarbeiten, um das zu verhindern.«
Auch wenn die Schritte Altmans begrüßenswert sind, müssen wir kritisch hinterfragen, inwieweit OpenAI die Gesetzgebung rund um KI beeinflusst, zumal diese Technologie seitens der Politik immer noch nicht gänzlich verstanden wird. Denn OpenAI ist alles andere als unabhängig: Mit einer langjährigen Investition von Microsoft vertreten sie mitunter deren Interessen. Deshalb müssen wir OpenAI im Auge behalten, da dieses Unternehmen mit dem exponentiellen Wachstum der Nutzerbasis als neues Daten- und Machtmonopol immer mehr Einfluss gewinnen wird.
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