Veronika Rusch - Autor
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Autorin

Veronika Rusch

Veronika Rusch ist Jahrgang 1968. Sie studierte Rechtswissenschaften und Italienisch in Passau und Rom und arbeitete als Anwältin in Verona, sowie in einer internationalen Anwaltskanzlei in München, bevor sie sich selbständig machte. Heute lebt sie als Schriftstellerin mit ihrer Familie in ihrem Heimatort in Oberbayern. Neben Romanen schreibt sie Theaterstücke für Erwachsene und Kinder sowie Dinner-Krimis. Für ihre Krimikurzgeschichte Hochwasser erhielt sie 2009 den zweiten Preis im Agatha-Christie-Krimiwettbewerb.

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Interview

»DIE BAHNHOFSMISSION IST EINE ERFOLGSGESCHICHTE« | 10.03.2023

Worum geht’s in Ihrem neuen Roman „Die Bahnhofsmission – Aller Tage Hoffnung“?Der Roman handelt von zwei sehr unterschiedlichen jungen Frauen in der Kaiserzeit – Natalie, eine Abenteurerin, die in einem Zirkus aufgewachsen ist, und Alice, die aus einem vermögenden Elternhaus stammt und von allem Unb...

Worum geht’s in Ihrem neuen Roman „Die Bahnhofsmission – Aller Tage Hoffnung“?
Der Roman handelt von zwei sehr unterschiedlichen jungen Frauen in der Kaiserzeit – Natalie, eine Abenteurerin, die in einem Zirkus aufgewachsen ist, und Alice, die aus einem vermögenden Elternhaus stammt und von allem Unbill der Welt ferngehalten wurde. Beide engagieren sich – aus unterschiedlichen Beweggründen – in der Berliner Bahnhofsmission. Dort kümmern sie sich um junge Frauen, die in der Stadt stranden, und müssen feststellen, dass sie sich damit mächtige Feinde machen. Es ist ein Roman, in dem es vor allem um Frauen und ihren Kampf um Selbstbestimmung in der damaligen Zeit geht, gleichzeitig ist es ein Krimi. Und Liebe ist auch dabei.
Sie leben in Bayern, waren aber bereits in verschiedenen europäischen Städten zu Hause. Warum haben Sie jetzt Berlin als Schauplatz Ihrer Geschichte gewählt?
Berlin ist gerade für historische Romane ein sehr spannender Ort, da sich dort vieles in unserer Geschichte konzentriert hat, im Guten wie im Schlechten. Es war damals schon eine bedeutende Großstadt, Zentrum des Kaiserreichs und eben auch die Stadt, in der die erste Bahnhofsmission gegründet wurde, um die sich der Roman dreht.
Ein Bahnhof gilt als Durchgangsort und Niemandsland. Warum ist dieser Ort gerade 1908 so interessant?
Die Zeit des Deutschen Kaiserreichs war eine Periode der Hochindustrialisierung, in der sich Deutschland vom Agrar- zum Industrieland wandelte. Das führte dazu, dass Massen von Menschen in die Städte zugewandert sind, auf der Suche nach Arbeit. Vor allem für junge Mädchen vom Land beinhaltete das eine große Gefahr, sie waren völlig schutzlos, der Menschenhandel blühte, die Frauen wurden nicht nur in Fabriken und als Dienstmädchen ausgebeutet, sondern auch in Bordelle verschleppt, bis nach Übersee.
Woher stammt Ihr Wissen über diese Zeit?
Ich habe sehr viel recherchiert, Bücher gelesen, auch über Mode, Haushaltsführung, das Essen der Zeit und Originaltexte der Frauenbewegung und der Bahnhofsmission. Auch im Internet findet man viel Informatives, Filmaufnahmen, Reportagen und andere Texte. Ich finde es immer wichtig, auch zeitgenössische Literatur zu lesen, oder Musik aus der Zeit zu hören, damit man ein Gefühl für die Menschen bekommt, wie sie gedacht und gesprochen haben und man ihnen nicht einfach unsere Sicht- und Sprechweise überstülpt, das wirkt sonst unglaubwürdig.
Die erste Bahnhofsmission entstand im Herbst 1894 am Berliner Ostbahnhof zum Schutz von Mädchen und Frauen. Was genau fasziniert Sie an der Geschichte der Bahnhofsmission und wie würden sie deren Bedeutung in der heutigen Zeit beschreiben?
Der Menschenhandel mit jungen Frauen blühte damals, es gab keinerlei rechtliche Absicherung für unverheiratete, arbeitende Frauen. Ich finde es bemerkenswert, dass der evangelische Pfarrer Johannes Burckhardt erkannt hat, dass man genau dort helfen muss, wo die Menschen ankommen und noch anonym und daher besonders schutzlos sind. Die Bahnhofsmission ist eine Erfolgsgeschichte, sie existiert noch heute in vielen deutschen Städten und in einer vergleichbaren Art in ganz Europa, wenngleich ihr Hilfsangebot sich mittlerweile etwas verlagert hat und nicht mehr nur junge Frauen, sondern arme Menschen im Allgemeinen, vor allem auch Obdachlose, im Fokus stehen. Die Idee, dorthin zu gehen, wo man am nötigsten gebraucht wird, damit die Hemmschwelle für die Hilfsbedürftigen so niedrig wie möglich ist, finde ich sehr gut. So gesehen ist die Bedeutung der Bahnhofsmission bis heute unverändert hoch.
Als Schriftstellerin fasziniert mich an der Bahnhofsmission das Aufeinandertreffen der verschiedenen Milieus. Die Ringvereine, Vereine von ehemaligen Strafgefangenen, die dann später, in den Zwanzigerjahren zu regelrechten Gangstersyndikaten heranwuchsen, haben ihren Ursprung in den Vierteln rund um den Schlesischen Bahnhof (heute Ostbahnhof) Berlins. Prostituierte, Arbeiter, Heimatlose, Bettler halten sich dort ebenso auf wie „anständige“ Bürger, die auf Reisen gehen. Mir gefällt es, über diese Kontraste zu schreiben, und mir gefällt das Vage, Unbestimmte und Unverbindliche von Bahnhöfen, damals wie heute, da es viele Geschichten in sich birgt. Eine Fundgrube für eine Geschichtenerzählerin.
Die Geschichte wird aus den zwei Perspektiven von Alice und Natalie erzählt, zwei starken und selbstbestimmten Figuren. Hatten Sie real-historische Vorbilder für Ihre Protagonistinnen?
Ich habe mir die Biographien vieler Frauen aus dieser Zeit angesehen, Frauen, die selbstbestimmt für ihre Rechte eintraten und sich stark politisch engagierten, aber auch Künstlerinnen, Tänzerinnen, Dichterinnen, die Kaiserzeit war in dieser Hinsicht vielfältiger, als man auf den ersten Blick vermuten möchte. Natalie und Alice sind eine Mischung aus all diesen Frauen, sie haben keine konkrete Entsprechung.
Mit welcher Ihrer Protagonistinnen können Sie sich am meisten identifizieren? Warum?
Das hat immer wieder gewechselt, je nachdem, in welcher Perspektive ich gerade geschrieben habe. Ich mag beide sehr gerne. Natalie ist schroffer, ich mag an ihr, dass sie eine Gratwanderin ist, die das Dunkle kennt und sich davon auch angezogen fühlt, auch wenn sie alles tut, um sich dem Sog zu entziehen. An Alice mag ich die Geradlinigkeit, ihre Offenheit, ihren Enthusiasmus und die anfängliche Naivität, die ihrer Jugend geschuldet ist.
Welche Szene in „Die Bahnhofsmission“ haben Sie am liebsten geschrieben?
Das ist schwer zu sagen. Ich schreibe im Grunde immer die Szene am liebsten, die ich gerade vor der Nase habe. Ich mochte gerne den Moment, in dem Alice eine Erkenntnis hat, welche ich nicht verraten kann, ohne zu spoilern. Und die Szene, in der Natalie sich in Gefahr begibt. Ach, eigentlich mochte ich alle.
Sie haben Rechtswissenschaft und Italienisch studiert, wie sind Sie dann zum Schreiben gekommen?
Ich bin immer schon ein Sprachen- und Geschichtenmensch gewesen, auch wenn ich anfangs nie auf die Idee gekommen wäre, Schriftstellerin zu werden. Märchen, Fantastisches, Rätselhaftes, Geheimnisvolles und Krimis – ich habe viel gelesen, mir gerne Geschichten ausgedacht und war stets von Sprache fasziniert. Sprachen zu lernen ist mir leichtgefallen, tut es heute noch. Am Anwaltsberuf hat mir das schriftliche Argumentieren am besten gefallen, auch wenn es natürlich mit dem fiktiven Schreiben nicht vergleichbar ist. Ich habe mit dem Schreiben begonnen, während ich als Anwältin in einer Wirtschaftskanzlei gearbeitet habe, was ziemlich anstrengend war. In der Mittagspause habe ich mir zur Entspannung eine Geschichte ausgedacht, da ging es um eine Anwältin in München, die gegen die Mafia kämpft. Daraus ist mein erster Roman „Das Gesetz der Wölfe“ entstanden.
Neben Romanen schreiben Sie Theaterstücke für Erwachsene und Kinder sowie Dinner-Krimis. Was unterscheidet diese Tätigkeit von der Arbeit an einem Roman?
Theaterstücke zu schreiben, unterscheidet sich ziemlich vom Schreiben von Romanen. Man muss alles, was in dem Stück passiert, tatsächlich zeigen, etwa in Form von Dialogen, man kann nicht auf Beschreibungen zurückgreifen. Außerdem ist man sehr stark eingeschränkt, was Ort und Zeit anbelangt – Aristoteles lässt grüßen – man kann nicht zwischen unendlich vielen Schauplätzen und Handlungssträngen umherspringen. Man muss sich auf die Macht des gesprochenen Wortes verlassen und darauf konzentrieren, was aber auch gerade die große Faszination von Theater ausmacht. Ich gehe wahnsinnig gerne ins Theater. Dinner-Krimis sind nochmal anders, es gibt oft keine richtige Bühne, alles spielt sich mittendrin ab. Sie brauchen Spannung, Tempo und Witz, die Zuschauer müssen miteinbezogen werden und man darf nicht vergessen, dass es dazwischen auch noch Essen gibt. Es ist recht herausfordernd, das alles unter einen Hut zu bekommen, macht aber auch großen Spaß.
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