Luca Di Fulvio schreibt in seinem neuen Roman »Das Mädchen, das den Himmel berührte« über kühne Lebensträume und über eine Liebe, die sich allen Grenzen widersetzt. Im Interview spricht der Autor über seine Bestimmung im Leben, das Verhältnis zu seinen Figuren und welches Ereignis ihn zu der Geschic...
Luca Di Fulvio schreibt in seinem neuen Roman »Das Mädchen, das den Himmel berührte« über kühne Lebensträume und über eine Liebe, die sich allen Grenzen widersetzt. Im Interview spricht der Autor über seine Bestimmung im Leben, das Verhältnis zu seinen Figuren und welches Ereignis ihn zu der Geschichte von Giuditta inspiriert hat.
Wenn Sie die Möglichkeit hätten, einen Tag mit einer Ihrer Romanfiguren zu verbringen, wer wäre das?
Ich würde mich bemühen, nicht Giuditta zu wählen, denn sie hat schon einen festen Platz in meinem Herzen. Und ich würde nicht Benedetta aussuchen, weil sie dieser Typ „Frau mit dunklem Geheimnis“ ist, in den ich mich verliebe. Meine Wahl fiele ebenfalls nicht auf Isacco, weil er von morgens bis abends nur über medizinische Dinge redet. Also würde ich mich schlussendlich für Mercurio entscheiden und mich von seiner Gabe anstecken lassen, dem Leben offen und unbefangen gegenüberzutreten.
Und was würden sie beide unternehmen?
Wenn ich an meine Zeit als (Theater-)Schauspieler zurückdenke, würden wir wohl die Zeit damit verbringen, uns zu verkleiden und Spaß haben. Vielleicht würde er mir ein paar seiner Tricks beibringen. Denn was ist ein Schriftsteller im Grunde schon anderes als ein guter Illusionist, der für den Leser etwas zum Leben erweckt, was in Wirklichkeit nicht existiert?
In »Das Mädchen, das den Himmel berührte« erwähnen Sie ein Ereignis aus Ihrer Vergangenheit, das Sie zu der Geschichte von Giuditta inspiriert hat. Welches Ereignis ist das?
Das Haus meiner Familie in Venedig liegt genau gegenüber von dem Platz des Ghetto Novo. Es gab an einer Seite einen winzigen Fluss, der die Häuser der Christen von denen des Ghettos trennte. Er war so winzig, dass ein Jude und ein Christ, jeweils aus dem gegenüberliegenden Fenster gebeugt und den Arm ausgestreckt, sich an den Fingerspitzen hätten berühren können.
Ich war 13 Jahre alt und da fiel mir auf der anderen Seite ein wunderschönes Mädchen auf. Viele Nächte habe ich davon geträumt, dass sich unsere Fingerspitzen heimlich berührt hätten. Ich dachte mir, wäre ich zur Zeit des jüdischen Ghettos geboren, wäre ich zum Judentum konvertiert, um diesem Mädchen nahe zu sein. Diesen Traum mit all seiner jugendlichen Innigkeit und Leidenschaft habe ich immer in meinem Herzen bewahrt. Nach all den Jahren habe ich mir nun die Möglichkeit geschenkt, diesen Traum durch Mercurio aufleben zu lassen – die Liebe zu jenem Mädchen, dessen Namen ich noch nicht einmal kenne.
Waren Sie sich über das Ende der Geschichte auf Anhieb im Klaren?
Nein, absolut nicht. Ich wusste natürlich, dass Mercurio und Giuditta irgendwann als Liebespaar zusammenkommen würden. Das war unausweichlich. Aber mir war nicht klar, wie. Zunächst musste eine Lösung für die Schwierigkeit der unterschiedlichen Konfessionen gefunden werden. Mercurio hätte nicht konvertieren können, denn dann wäre er der Inquisition zum Opfer gefallen. Und ich wollte nicht, dass Giuditta dem Judentum abschwört, weil es moralisch gesehen eine Niederlage bedeutet hätte. Also habe ich überlegt, an welchem Ort die beiden ohne Probleme hätten leben können. Da kam mir das Türkische Reich in den Sinn – so absurd es heutzutage angesichts der Intoleranz der islamischen Welt klingen mag. Zu damaliger Zeit war es eins der offensten Länder. Ich stellte mir vor, dass man die Beiden gefragt hätte: „Die Mutter Jüdin, der Vater Christ … und was sind eure Kinder?“ Ihre Antwort hätte gelautet: „Frei.“
Werden Sie oft von realen Ereignissen inspiriert?
Durchaus, wenngleich es mir bei diesen Fakten vor allem darum geht, dass die Begebenheiten, die ich in meinen Romanen schildere, einen Bezug zur aktuellen Realität haben. Ein Roman, der in einer Vergangenheit spielt, die keine Relevanz zur Gegenwart hat, erscheint mir wenig sinnvoll.
Ein interessanter Punkt in Ihrem Roman ist das Verhältnis zwischen Gut und Böse, Liebe und Hass. Wie entwickeln sich Ihre Figuren innerhalb der Geschichte?
Auch wenn es banal klingt, aber ich bemühe mich, die Welt nicht schwarzweiß zu sehen. Die Protagonisten eines Romans müssen natürlich nach gewissen Regeln funktionieren, um die Geschichte voranzutreiben. Ich versuche ihnen beim Schreiben die Möglichkeit zu lassen, sich zu befreien oder zugrunde zugehen, unnachgiebig zu sein oder zu verzeihen. Ich glaube, wenn ein Autor dazu bereit ist, verhilft dies seinen Figuren zu größtmöglicher Lebendigkeit.
Ihre Romane haben immer einen historischen Hintergrund oder einen Rahmenkonflikt, der sich aus diesem ergibt. Haben Sie sich schon immer für Geschichte interessiert?
Ja, schon immer. Aber nicht unbedingt im akademischen Sinn. Ich bin zwischen Rom und Venedig aufgewachsen. In diesen beiden Städten gibt es so viel Geschichte, dass man ständig darüber stolpert. Ich habe als Kind auf dem Forum Romanum Fußball gespielt und hinter Marmorsäulen die ersten verstohlenen Küsse ausgetauscht.
Als ich zehn Jahre alt war, habe ich mir gewünscht, eine Zeitmaschine würde Julius Caesar zu uns nach Hause bringen. Ich würde ihm beibringen, wie man sich mit dem Gillette-Rasierer meines Vaters rasiert oder wie man Fahrrad fährt. Und er hätte mich sehr bewundert, weil ich es so gut konnte. Auch wenn das ganz schön größenwahnsinnig klingt – ein kleiner Junge, der glaubt, Julius Caesar etwas beibringen zu können! –, schäme ich mich doch nicht es zu erzählen, denn es zeigt, dass Geschichte für mich immer gegenwärtig und selbstverständlich war, ohne dass sie mich erschreckt hätte.
Wie viel Recherche mussten Sie betreiben, um den historischen Hintergrund richtig darstellen zu können?
Für »Das Mädchen, das den Himmel berührte« habe ich wenig recherchieren müssen. Ich kenne die venezianischen Gerüche, die Farbe des Himmels, die Anekdoten, die Schauplätze. Auch wenn die Zeit, die ich im Roman beschreibe, natürlich eine andere war, ist Venedig ein Ort, an dem ich gelebt, gespielt und mich verliebt habe. Ich brauchte also vor allem Informationen über bestimmte historische Details, nicht aber über die Substanz als solche.
Wie sahen Ihre Recherchen genau aus?
Wie eine Bergwanderung mit meinen Hunden. Ich suche mir vorher eine Route aus und weiß, dass ich mich der Beschilderung folgend, nicht wirklich verlaufen kann. Aber was zählt, ist nicht der Weg selbst, sondern das Drumherum, all das Unvorhersehbare. Plötzlich siehst du einen Hirsch, der den Wald durchstreift, einen seltenen Pilz, einen umgestürzten Baum, hörst das Krächzen eines Adlers vom Gipfel widerhallen. Oder du siehst einfach einen Felsen, der in genau diesem Moment von einem Sonnenstrahl erleuchtet wird. Also, kurz gesagt, wenn die Recherche nicht auch kreative Seiten hat, schlafe ich ein.
Ein zentrales Motiv in Ihren Büchern ist das Streben nach Glück, indem man sich seine Lebensträume erfüllt. Wovon träumen Sie?
Ich bin ein bulimischer Träumer. Ein einziger Traum reicht mir nicht. Meiner Meinung nach lehren Träume uns eine gewisse Leichtigkeit. Und diese Leichtigkeit ist ein weiterer Traum von mir. Das Leben, der Weg, die ständige Veränderung, das sind meine persönlichen Träume.
Einer der Hauptcharaktere, Mercurio, ist ständig auf der Suche nach einer Bestimmung im Leben. Welches ist Ihre „Bestimmung“?
In meiner Jugend haben mich die Bücher von Carlos Castaneda fasziniert, in denen er von seiner Lehrzeit mit Don Juan erzählt. Der weise alte Zauberer sagt, es gibt kein Ziel. Niemals. Aber es gibt immer einen Weg. Also, ich denke, meine „Bestimmung“ ist es, bis zum letzten Tag meines Lebens meinen Weg fortzusetzen, ohne dabei je die Ohren oder die Augen zu verschließen.
Sie stellen das Durchhaltevermögen einer Person als Notwendigkeit dar, um sich seine Träume zu erfüllen – woher weiß ich, dass ich auf dem richtigen Weg bin?
Ich komme noch einmal auf Don Juan zurück, weil er auf den Punkt bringt, was ich denke: Der einzig richtige Weg ist der „Weg des Herzens“. Die anderen Wege ohne Herz, sind jedoch nicht falsch, sie haben nur einfach keinen Sinn. Wenn du also das Gefühl hast, du bist auch mit dem Herzen bei der Sache, verfolge diesen Weg weiter. Aber welcher das ist, weiß eben niemand außer dir selbst.
Was können wir als nächstes von Ihnen erwarten?
Ich bin völlig inspiriert von der Epoche des Humanismus, also der Phase, in der das Mittelalter von der Renaissance abgelöst wird. Erst war Gott das Zentrum des Universums, nun ist es der Mensch. Eine fundamentale Wandlung. Mich erinnert das auch an die traumatische Veränderung, die der Körper beim Übergang von der Kindheit zur Jugend erfährt. Vielleicht werde ich eine solche Geschichte erzählen, die der Entwicklung eines Kindes, seine gewaltige Veränderung.