Im Interview: Malin Persson Giolito zu ihrem Buch „Im Traum kannst du nicht lügen" | 03.10.2017
Was hat Sie bewogen, sich mit diesem Horrorszenario auseinanderzusetzen?
Zum Teil hatte das vermutlich mit meinen eigenen Ängsten zu tun. Ich schicke meine Kinder jeden Morgen in eine Schule, die von nahezu 4.000 Schülern besucht wird. Da macht man sich automatisch Gedanken, selbst wenn man „Herr der Fliegen“ nicht gelesen hat.
Die geschilderte Bluttat ereignet sich an einem Gymnasium im Stockholmer Nobel-Vorort Djursholm und die mutmaßlichen Täter sind zwei beliebte und gescheite Achtzehnjährige aus den allerbesten Kreisen. Warum war es wichtig für Sie, die Geschichte in diesem sozialen Umfeld anzusiedeln?
Ich stamme selbst aus Djursholm. Ich bin dort aufgewachsen und auch zur Schule gegangen. Und da es in meinem Buch nicht nur um eine Liebesbeziehung zwischen Teenagern geht, die schiefläuft, sondern auch um die Gesellschaft, in der wir leben, und die immer größer werdende Ungleichheit, die unseren Alltag prägt, war Djursholm die perfekte Kulisse für meine Geschichte.
Maja muss sich als vermeintliche Drahtzieherin des Massakers vor Gericht verantworten. „Im Traum kannst du nicht lügen“ ist ihre Geschichte und sie erzählt sie dem Leser aus ihrer Perspektive. Wie viel Zeit und Mühe hat es Sie gekostet, die vielen, oftmals widersprüchlichen Facetten von Majas Charakter zu erfassen und was war dabei das Schwierigste?
Das alles hat mich sehr viel Zeit und Mühe gekostet. Abgesehen davon, dass es schwierig war, eine spannende Story aus nur einer Perspektive zu erzählen, bestand die größte Herausforderung darin, den Aufbau der Geschichte zu erarbeiten. Maja zu schreiben, war ab dem Moment, da ich ihre Stimme im Kopf hatte, einer der angenehmen Teile der Arbeit. Sie war eine großartige Weggefährtin. Manchmal habe ich ihre Stimme heute noch im Kopf. Sie ist so witzig. Und zutiefst unglücklich. Und überzeugt von ihrem eigenen Urteilsvermögen und sie hat so viele Vorurteile und sie weiß nicht weiter und sie fühlt sich so betrogen und nimmt sich so schrecklich wichtig und – ich liebe sie. Der Leser braucht das nicht zu tun, aber ich liebe sie.
Wie die meisten Teenager hat Maja zu allem und jedem eine Meinung, und die ist nur in den seltensten Fällen gut – ihre Vorurteile sind ihr heilig. Wie viel Spaß hat es gemacht, ihr Worte in den Mund zu legen, die zum Teil kränkend und nicht gerade politisch korrekt, wohl aber umwerfend witzig und in vielen Fällen nur allzu wahr sind?
Oh ja, aus genau diesem Grund habe ich es so geliebt, Maja zu schreiben. Aller Wahrscheinlichkeit nach lässt das Rückschlüsse auf meinen Charakter zu, die nicht gerade schmeichelhaft sind, aber ich habe ihre Ehrlichkeit und ihren Zynismus geliebt. Dieses ganze Es-interessiert-mich-einen-Dreck-was-ihr-von-mir-haltet. Diese Wut, die man selbst nie herauslässt, weil man ja ein zivilisierter Mensch ist. Sie erlaubt sich diese Wut und das hat mir mehr Spaß gemacht als alles andere, was ich als Autorin je getan habe.
Der Roman beginnt am ersten Tag der Gerichtsverhandlung gegen Maja. Der Leser weiß zu diesem Zeitpunkt ebenso viel über den Fall wie die Öffentlichkeit im Buch: Sie wissen zwar, was passiert ist, aber weder warum, noch wie. In der Folge erzählt Maja, die als einzige weiß, was sich zugetragen hat, ihre Geschichte in Rückblicken. Dabei nimmt ihre Verbindung zu Sebastian Fagerman eine ganz besondere Stellung ein. Wie würden Sie die Beziehung der beiden umreißen und worauf kam es Ihnen bei der Darstellung am meisten an?
Als Autorin stellte Sebastian eine der größten Herausforderungen für mich dar, weil ich die Beziehung verstehen musste, die Maja zu Sebastian hat, und die Liebe, die sie nach wie vor für ihn empfindet. Dafür habe ich ziemlich lange gebraucht. Ohne allzu viel zu verraten: Die Beziehung der beiden ist nicht die Art von Beziehung, die Sie sich für Ihre Tochter oder einen Menschen, der Ihnen etwas bedeutet, wünschen würden. Sebastians gesellschaftliche Stellung ist ein bedeutsamer Aspekt, vor allem im Hinblick auf die Erwachsenen in Majas Umfeld und im Hinblick darauf, wie sie reagieren bzw. versäumen zu reagieren. Noch wichtiger, zumindest für Majas Gefühle, Handlungen und Reaktionen, ist aber Sebastians Drogenabhängigkeit.
Laut Cover ist Ihr Buch ein Thriller, der allerdings im vergangenen Jahr als Bester Kriminalroman Schwedens 2016 ausgezeichnet wurde, obwohl er eigentlich eher noch ein Gerichtsdrama ist, zugleich aber eben auch eine Lovestory, eine Geschichte über das Erwachsenwerden und nicht zuletzt ein äußerst gesellschaftskritischer Roman. Hatten Sie von Anfang an geplant, genreübergreifend zu schreiben, oder hat sich das so ergeben? Wie ist es Ihnen gelungen, das alles in eine bis zum letzten Moment spannende Story einzubinden?
Dieses Lob bedeutet mir sehr viel. Ich denke nicht in „Genre-Schubladen“, wenn ich schreibe, das habe ich noch nie getan. Das Etikettieren überlasse ich den Verlagen. In der Vergangenheit könnte mir das ein wenig zum Nachteil gereicht haben, weil es hieß, meine früheren Romane seien schwer einem Genre zuzuordnen gewesen. Mir ging es aber in erster Linie immer um das Buch. Ich will spannende Romane mit juristischem Kontext schreiben, weil ich das am besten kann. Und ich habe immer gehofft, dass man meine genreübergreifenden Tendenzen als Vorteil betrachtet.
Bleiben wir einen Moment bei der Gesellschaftskritik. Wir wissen zwar alle, dass Integration weitgehend nur ein Wort ist und die Kluft zwischen Arm und Reich immer größer wird, aber in „Im Traum kannst du nicht lügen“ bekommen diese Fakten Gesichter und werden lebendig. Steuert unsere Gesellschaft Ihrer Meinung nach auf eine Katastrophe zu und wenn ja, wie wäre dem entgegenzuwirken?
Einerseits gibt es nur eines, dessen wir hundertprozentig sicher sein können, und das ist, dass wir alle sterben werden. Warum sollte das nicht auch für die Gesellschaft oder gar die Menschheit gelten? Andererseits ist es recht erstaunlich, dass die Menschheit überhaupt so lange hat überleben können! Wenn man das auf einen größeren Maßstab überträgt, heißt das, dass wir Zeiten überwunden haben und siegreich aus ihnen hervorgegangen sind, die schwieriger waren als die, mit denen wir uns heute konfrontiert sehen. Wir sollten niemals vergessen, dass wir selbst, wenn wir vor gewaltigen Herausforderungen stehen, in einer Zeit leben, die besser denn je gerüstet ist, diesen Herausforderungen zu begegnen.
Ich bezeichne mich selbst nicht gern als Optimistin, weil dieses Wort so einen ganz gewissen, unangenehm naiven Beiklang hat. Aber wenn wir in unseren Bemühungen nicht nachlassen, Hand in Hand arbeiten, Solidarität beweisen und unseren Nächsten genauso lieben wie diejenigen, die gern unsere Nächsten werden würden, vielleicht können wir die Menschheit dann doch noch in eine bessere Zukunft hinüberretten – unseren Kindern zuliebe. Und da die Alternative wäre, sich einfach nur aufs Sofa zu legen und zu warten, bis die Plastiktüten jeden einzelnen von uns erwürgt haben, ziehe ich es, glaube ich, vor, Optimistin zu sein.
Sie sind Mutter von drei Kindern und Ihr Buch macht dem Leser auf erschreckende Weise klar, wie wenig selbst gute und verantwortungsbewusste Eltern über ihre Kinder wissen. Plagten Sie dahingehend schon vorher Ängste, die Sie sich mit dem Roman von der Seele schreiben wollten, oder sind diese Ängste beim Schreiben erst so richtig entstanden?
Wer Kinder hat, lebt ständig in Angst. Auf diese Furcht hat sich das Schreiben des Buches nicht sonderlich ausgewirkt. Ich neige allerdings – wie so viele Autoren – dazu, über meine Ängste zu schreiben, also nehme ich an, dass ich unterschwellig immer noch hoffe, irgendwann in der Lage zu sein, sie mir von der Seele zu schreiben.
Autoren werden häufig gefragt, was sie mit ihrem Werk bewirken wollten. Anders formuliert: Wenn es in Ihrer Macht stünde, etwas Konkretes mit Ihrem Roman zu bewirken, was wäre das?
Bevor ich mit dem Schreiben anfange, will ich immer, dass meine Bücher die Welt verändern. Sie verbessern, ihr Friede, Liebe und Verständnis bringen. Dann erscheint das Buch und man betet nur noch, dass es den Leuten gefällt. Dass sie es zu Ende lesen, ohne einen zu hassen. Oder dass sie es lieben. Oder dass sie zumindest den vollen Ladenpreis dafür zahlen.
„Im Traum kannst du nicht lügen“ ist Ihr vierter Roman, dessen großer Erfolg Ihnen jetzt ermöglicht, sich ganz dem Schreiben zu widmen. War das immer schon insgeheim Ihr Traumberuf?
Ja. Ich lebe jetzt den Traum, den ich hatte, seit ich ein kleines Mädchen war. Ich war mir allerdings nie im Klaren darüber, wie zeitaufwendig es sein könnte, diesen Traum zu leben. Und das, obwohl ich aufgehört habe, mich selbst zu googeln. Ich mache es zumindest nicht mehr jeden Tag. Es kostet sehr viel Mühe, im Erfolgreichsein erfolgreich zu sein.